Die Wahrheit: Bleiche Stange, gelbe Klebe
Abschiedsfeier des schlechten Geschmacks: Traditionell endet die Spargelsaison am 24. Juni. Nun könnte endgültig Schluss sein mit dem Gemüsewahn.
Es sind Nachrichten, so fade und halbherzig bitter wie das Gewächs selbst: 52 Prozent der Bundesbürger ertragen das gekünstelte, übertriebene Schwärmen von den Spargelexzessen des Wochenendes nicht mehr. Die überwiegende Mehrheit ihrer dümmsten Kollegen stimmt es Montag für Montag im Büro und an der Werkbank an. Fast zwei Drittel der Befragten haben an den letzten vier Wochenenden allerdings auf das eklige Gemüse verzichtet und den Nachbarn nur aus Furcht vor Gesichtsverlust nichts davon gesagt. Und bereits 35 Prozent schwören, dass sie mit Ablauf dieser Saison die Schnauze von den schlaffen Faserbündeln voll haben – die meisten von ihnen, nachdem sie infolge des Spargelkaufs Privatinsolvenz anmelden mussten.
Anspruchsvollen Feinschmeckern geht Spargel mit seiner populistischen Popularität schon seit Jahren gehörig auf den Geschmacksnerv. Sie nennen ihn abfällig „den wässrigen Willi“, lachen über den „Pisse-Stinker“ oder verspotten ihn als Kennzeichen von „Pale White Supremacy“, da er vor allem alte weiße Männer trotz seines abwesenden bis bedenklichen Aromas zu begeistern vermag. Doch als umstrittenes Luxusgemüse fürs kulinarische Feuilleton ist Spargel jetzt ebenfalls auf dem absteigenden Ast. Dafür ist nicht allein Überdruss verantwortlich. Steigende Preise und sinkende Kaufkraft, in Tateinheit mit Krieg, Inflation und Klimakatastrophe, versetzen der labbrigen Stange in dieser Saison eventuell den Todesstoß.
Denn Deutschlands Spargelbarone haben festgestellt, dass sie 2023 noch nicht genug Profit gescheffelt haben, obwohl ihnen Zehntausende günstiger Zeitarbeitskräfte aus Osteuropa bei der Ernte geholfen haben. Präsident Jost Thürmer vom Hauptverband der deutschen Spargel- und Erdbeervermarkter e. V. drohte deshalb zu Beginn des Monats damit, den Anbau kurzerhand einzustellen. Wenn sich die Juni-Umsätze nicht deutlich besserten, werde die Spargelsaison des kommenden Jahres ausfallen müssen, warnte Thürmer die Kundschaft: „Für weißen Trüffel oder Kobe-Rindfleisch wird auch jeder Preis bezahlt – warum nicht für Schwetzinger Spargel?! Wieso hassen die Deutschen ihre Heimat so sehr?“
Hollandaise aus Bierkrügen
Das Ultimatum schlug international Wellen. „Die Krauts haben keinen Bock mehr auf ihr heißgeliebtes Idiotengemüse“, lästerte der britische Fernsehkoch Jamie Oliver vor ein paar Tagen im Podcast mit Stargastronom Yotam Ottolenghi. „Sie trinken ihre Hollandaise jetzt wieder pur aus Soßenschüssel oder Bierkrug!“ Der wiederum wies lachend auf eine Besonderheit hin: „Nur in Deutschland gibt es diesen irren Kult um den weißen Spargel – weil die Deutschen keine Geschmacksknospen haben, vermute ich.“
Tatsächlich besitzt Spargel hierzulande einen grotesk einzigartigen Status und ist die Gemüseart mit der größten Anbaufläche. Etwa ein Sechstel der bundesweiten Äcker sind für die teure Feldfrucht reserviert, die wegen der immensen Verdienstspanne unter Spekulanten auch als „das weiße Gold“ bekannt ist. Deshalb ist die Branche darauf angewiesen, dass die Spargelsaison alljährlich zum Riesengeschäft und garantierten Erfolg wird: In diesen drei Monaten kaufen die Deutschen den Bauern pro Kopf zwei Kilo frischen Spargel ab und finanzieren damit ein Viertel aller Eigenheime, Swimmingpools und Oberklassefahrzeuge im ländlichen Raum.
Dass die deutsche Besessenheit mit dem zartbitter-nichtssagenden Faserschwengel erstmals seit Jahrzehnten nachlässt, macht der heimischen Gastronomie, die von April bis Juni damit 90 Prozent ihrer Gewinne einfährt, ebenso Sorgen wie den Spargelverwertern. Ehe sie entscheiden, ob es kommendes Jahr weitergeht oder nicht, hat ihr Lobbyverband eine repräsentative Befragung zu den Ursachen des Konsumrückgangs in Auftrag gegeben. Die ersten Ergebnisse liegen nun vor und erschrecken das ganze Land.
„Bleichspargel ist zuletzt ein reines Renommiergericht der stumpfesten Deutschen geworden, ein Protzsymbol, das für Gier und Völlerei steht, aber keine positiven Emotionen mehr weckt“, berichtet Studienleiter Dr. Benjamin Moor von der Agrar-Universität Uelzen schockiert.
Die Spargelsaison diene der oberen Mittelschicht aus höheren Angestellten, Beamten und Selbständigen zum einen dazu, ihren ergaunerten Wohlstand auszustellen, am liebsten vor den Augen der Nachbarn im Garten; zum anderen schlicht dazu, viehische Fressgelage abzuhalten, teils im Lokal in aller Öffentlichkeit.
„Spargel, Kalbsschnitzel, Wildschweinschinken, bergeweise Kartoffeln, literweise Hollandaise und zerlassene Butter – mit Vorsuppe und Getränken sind wir da schon beim kalorischen Tagesbedarf eines Grubenarbeiters, der sich hier in einer halben Stunde in den Leib gehämmert wird“, schüttelt sich der Demoskop, „alles unter dem Deckmäntelchen, Spargel sei edel, kalorienarm und eine frühlingshaft leichte Abnehm-Alternative!“
Betonschwerer Todestrieb
Dr. Moor glaubt, dass viele Deutsche dieses schweinigelige Gefühl insgeheim lieben: „Das ist der Todestrieb! Sie fressen sich so voll, wie sie sich besaufen – also von Duseligkeit über Betonschwere bis hin zur Bewusstlosigkeit. Sonst müsste man sich ja gepflegt unterhalten, was diese Almans aber nicht können.“
Um zu gewährleisten, dass die Spargelmahlzeit den gewünschten einschnürenden Effekt auf das Bewusstsein hat, lassen sich die meisten Konsumenten das geschälte und teilweise trotzdem holzige Gemüse mittlerweile standardmäßig mit pastellgelber Fettklebe übergießen, der berüchtigten Sauce Hollandaise – auch im Restaurant nahezu immer als billiges Fertigprodukt.
Besonders dieses „Grauen aus dem Tetrapak“ ist etwas, worüber der Umfrageleiter nicht hinwegkommt: „Wer seinen Spargel mit einer solchen Tunke aus Industrieöl, Verdickungsmitteln und künstlichem Butteraroma überkleistert, nimmt gewiss keine feinen Geschmacksfacetten wahr. Die Spargel demgemäß auch gar nicht hat! Solche Leute könnten sich genauso gut mit Schwarzwurzeln aus der Dose behelfen.“
Beim weißen Spargel sieht Dr. Moor für die Zukunft jedenfalls schwarz: „Das Stangengemüse wird in den nächsten Jahren absteigen in die Lachs-Liga. Als hochbelastetes, ökologisch unverantwortliches Massenprodukt für Kantinen und Imbissbuden, das von seinem Nimbus als ehemalige Delikatesse zehrt.“
Vom weiteren Anbau rät der Experte den Bauern deshalb ab: „Früher hui, heute pfui! Am Spargel erkennst du Menschen ohne jeden Geschmack.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“