Die Wahrheit: Bayerische Brüter

In der Phantasiestraße bietet die Stadt München jetzt den Schicken und Schönen einen Innovationskraftort an. Die Landesregierung ist begeistert.

Zentrale bayerischer Geistesblitze: Phantasiestraße Foto: Rüdiger Kind

Tom Marvis versteht die Welt nicht mehr. Vor wenigen Stunden war der durchtrainierte Mittdreißiger noch mit seinen Kumpels von der Agentur durch den Englischen Garten gefedert, war im offenen Jaguar E-Type über die Leopoldstraße gecruist, war aus purer Lebenslust in den Eisbach gesprungen und hatte mit seinem Sixpack-Body den Mädels den Verstand geraubt – und jetzt starrte er urplötzlich in einen gähnenden Abgrund aus Langeweile, Hoffnungslosigkeit und, ja, man muss es so nennen, Lebensüberdruss.

„Mister“ Marvis, wie er von seinen Freunden genannt wird, kann weder vom blitzenden Chrom seiner Barista-Pro-Espressomaschine noch von der berückenden Aussicht aus dem vier Meter breiten Panoramafenster seiner durchgestylten Dachterrassenwohnung auf die Münchner Altstadt aufgemuntert werden. Die Oberflächlichkeit seiner Beziehungen, die Hohlheit seines Luxuslebens ist ihm schlagartig zu Bewusstsein gekommen und nagt unerbittlich am Ego des Werbetexters. Mit nachdenklicher Miene und sorgenzerfurchter Stirn bereitet er sich einen Espresso zu, ohne wirkliche Hoffnung, dass dieser ihn aus dem tiefen Tal der Tränen würde retten können. Wohin nur soll die weitere Lebensreise gehen? Während Tom Marvis noch mit seinen inneren Dämonen ringt, flattert auf TikTok eine geheimnisvolle Nachricht auf sein Mobilgerät, er solle sich an einem wundersamen Ort einfinden, der „Phantasiestraße“ …

Wer den schäbigen Wohnblock aus den siebziger Jahren, die leicht angeranzten Wohnungen mit ihren PVC-Fliesen in der Küche und den braun-beigen Kacheln an den Badezimmerwänden sieht, ahnt nicht, dass es hier einen Ort der Coolness gibt, der jeden Burn-out und andere Unbillen modernen Daseins heilt. In der Phantasiestraße ist die neben der Liebe größte Kraft zu Hause. Das macht sich auch die bayerische Landesregierung zunutze.

Beste Köpfe

„Ohne unkonventionelle, innovative Ideen geht heute gar nichts“, erklärt Richard Kofler, Leiter der Task Force „Kreative Kraftorte“ im bayerischen Wirtschaftsministerium. „Wir wollen mit der Fantasie in der Phantasiestraße nicht nur die besten Köpfe im Bereich der Wissenschaft, Technik oder Informationstechnologie anlocken, nicht nur den Medien, Werbe- und Marketingspezialisten Freiräume schaffen, sondern allen Bürgern und Bürgerinnen die bestmöglichen Bedingungen für die Entwicklung ihrer Talente bieten.“

Deshalb wurde im Osten Münchens das „Kreativquartier“ eingerichtet. In dem unscheinbaren Wohnblock sollen in betont nüchterner Umgebung, ohne störendes Beiwerk, Spitzenleistungen der bayerischen Denkwelt entstehen, die langfristig helfen, den Wirtschaftsstandort Bayern international wettbewerbsfähig zu halten.

Ein Rundgang durch den freistaatlichen Innovationskraftort gibt erstaunliche Einblicke frei: Da arbeitet der CSU-Maskenmann Alfred Sauter an der Verbesserung seiner Nebeneinkünfte wie Ex-Verkehrsminister Andi Scheuer am Aufbau eines eigenen Unternehmens. Sein Start-up Maut & More bietet maßgeschneiderte Mautlösungen für den Eigenheimbesitzer – Stichwort Gehwegmaut, Badbenützungsmaut. Revolutionäre Konzepte, die der umtriebige Niederbayer zu Hause schon einem erfolgreichen Praxistest unterzogen hat.

Egal wohin man schaut, immer drängt sich der Eindruck auf, in einem Abklingbecken, ja Endlager gescheiterter CSU-Existenzen gelandet zu sein. „Das ist hier eher eine echte Wiederaufbereitungsanlage“, erläutert Task-Force-Chef Kofler und besingt die Kraft des „Kreativquartiers“, das ein „schneller Brüter“ für die Entwicklung schöpferischer Geistesblitze sei.

Kurzes Zögern

Werbemann Tom Marvis, der sich nach kurzem Zögern schnell für einen Umzug in den Komplex und den Aufbau einer eigenen Agentur entschieden hat, musste seinen Entschluss nicht bereuen. In der spartanisch eingerichteten, fast mönchischen Zelle kann er den eitlen Tand seines früheren Lebens hinter sich lassen, die wahren Werte seines Wesens wiederfinden. Hier vermag er endlich wieder die Magie der Inspiration zu erspüren, die ihm so lange schon abhandengekommen war.

Während die gute, alte Melitta-Kaffeemaschine vor sich hin brodelt, brütet der technologieoffene Jungdynamiker fieberhaft ein „Ideenpack“ für eine Imagekampagne des Wirtschaftsministeriums für landeseigene Atomkraft aus. Nach der ersten Tasse des köstlichen Filtergebräus hat er seinen Claim: „Atomstrom – erzeugt nach dem bayerischen Reinheitsgebot“.

Aber Tom Marvis wäre nicht Mister Marvis, wenn er nicht auch einen Auftrag des politischen Gegners zu bearbeiten hätte. Der Blick aus dem Küchenfenster auf den spärlich begrünten Hinterhof, auf die parkenden Verbrenner, die efeu-umrankten Garagen schenkt ihm blitzartig einen Slogan für die Grünen: „Efeu statt E-Fuel“.

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kari

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