Die Wahrheit: Rührstück mit blauem Band
Ächz, stöhn, schwitz! Warum der nun anbrechende Frühling für Mensch und Tier eine einzige Zumutung ist.
Der Lenz ist da. Als wäre ein Schalter umgelegt worden, verdient sich das Tageslicht auf einmal wieder seinen Namen. Überall im Park singen die Vögel, sprießen die Büsche, gehen die Leute spazieren.
Doch wer jetzt bloß wieder eines jener besinnungslosen Schmalzrührstücke erwartet, mit denen die üblichen Verdächtigen – Bänkelsänger, Lyriker und andere protoesoterische Volksverhetzer – den Frühling kontrafaktisch propagieren, sei hier eines Wahrhaftigeren belehrt.
Der Frühling ist ein Arschloch.
Nach außen hin spielt er das sanftmütige Kerlchen, ist jedoch eigentlich ein Diktator, der sein geknechtetes Volk im eisernen Griff seines Lärm-, Temperatur- und Farbenterrors hält. Kluge und herzensreine Menschen verachten diese Jahreszeit. Räumen wir einmal Schritt für Schritt mit der bekloppten Frühlingsgrütze auf.
Ja, warum „singen“ denn die Vögel wohl so laut? Sentimentale Schwachköpfe wollen uns weismachen, sie „begrüßten“ voller „Freude“ den nahenden Frühling. „Hört“, quaken diese Halbfaschisten uns ihr Parallelwissen in die schmerzenden Ohren: „Wie sie balzen, um dann gemeinsam mit ihren Partnern ein Nest zu bauen, Eier zu legen und die Jungen großzuziehen. Wie süß!“
Vollkommen zugedröhnte Natur
Süß am Arsch. Könnten sie deren Sprache verstehen, wüssten sie, dass die Vögel lautstark abkotzen über die heteronormative Zumutung, zu der sie eine offenkundig vollkommen zugedröhnte Natur zwingt und die der klassische Frühlingsdepp à la „Alle Vögel sind schon da“ auch noch verblödet abfeiert.
Und wie sie das warme Wetter nervt! Die Amseln schwitzen höllisch unter ihren schwarzen Federn. Kein Vogel, der auch nur halbwegs bei Sinnen ist, hat Bock darauf, ein Nest zu bauen. Die Schlepperei ist einfach nur superätzend. Danach dürfen sie im Regen irgendwelche bescheuerten Eier ausbrüten und bis zum Burn-out brutal hässliche Vogeljunge füttern, die, statt auch nur einem Wort des Dankes, nonstop piepend wie beim Zahnarzt den Schnabel aufsperren. Die Eltern denken unablässig an Mord. Viel lieber wären sie ungebunden, polyamor aktiv und würden irgendwas mit Kunst machen.
Die bloße Aussicht auf das Elend lässt die Vögel in ohnmächtigem Zorn aufbrüllen. Die wütende Kakofonie der Spatzen spricht Bände. Nicht umsonst klingt, schließt man die Augen und fühlt sich in den Tenor hinein, das Tschilpen nur wie ein stakkatoartiges, „Scheiße, Scheiße, Scheiße …“
Die Büsche kotzen natürlich ebenfalls ab. Den Winter über war alles so wunderbar leicht. Und jetzt? Blätter, Blätter, Blätter! Ächz, stöhn, schwitz! Bald keuchen sie unter der Last des frischen Grüns, dazu knospt und wuchert es in ihrem Inneren schier unerträglich. Wie Jugendliche, die am als beängstigend und sinnlos empfundenen Wachstum der Brüste oder Barthaare verzweifeln, klagen die Büsche in stummem Schrei eine hämisch lachende Sonne an, die die Hauptschuld an dem Desaster trägt.
Wie gehirngewaschene Lemminge
Auch die Menschen sind schlimm dran. Von allen wird erwartet, wie auf Kommando ganz besonders gut drauf zu sein. Ja, aber warum denn nur, um Gottes willen? Es gibt nicht den geringsten Grund, eher im Gegenteil. Wenn uns jemand sagt, „spring vor die Straßenbahn“, tun wir das schließlich auch nicht. Wenn es hingegen heißt, „geh doch raus, ist doch so schöner Frühling“, stürmen alle wie gehirngewaschene Lemminge ins Freie.
In Massen laufen sie draußen herum, als ob’s kein Drinnen gäbe. Blöde grinsen sie mich an, ich fühle mich permanent sexuell belästigt. Das muss ein alternder cis-Moll-Mann erst mal schaffen, der sich bekanntlich nicht gerade in den Top Ten der beliebtesten Geschlecht-Alter-Kombinationen tummelt.
Am übelsten nehme ich dem Frühling im Grunde seine Falschheit. Er stresst alle mega und hält sich dennoch für den King unter den Jahreszeiten. Dabei kann er sich für nichts entscheiden. Hier ein bisschen Herbst, da ein wenig Sommer, und an Ostern schneit es. Was für ein Idiot.
Zwar ist auch der Herbst so eine Mischsaison, aber bei ihm geht es wenigstens verlässlich bergab. Wie überall und mit allem. Das ist glaubwürdig. Über die charakterliche Qualität des Winters brauchen wir ohnehin nicht zu sprechen, und sogar der ehemals nervende Sommer hat sich mittlerweile ehrlich gemacht und bringt nun vielen wie selbstverständlich den Hitzetod.
„Der Frühling lügt wie so’n Wessi“, lautet eine Redensart, die sich zwischen Ostsee und Erzgebirge größter Beliebtheit erfreut. Das mag daran liegen, dass der Frühling wegen seines Grünfimmels mit den dort so verhassten Grünen gleichgesetzt wird. Bei denen vermisst man schlicht die Klarheit, wie sie ja der Winter oder auch die tiefe russische Seele im Übermaß besitzen sollen.
Apropos. Trotz vernachlässigbarer Ausnahmen wie Erster oder Zweiter Weltkrieg gilt in unseren Breiten die buchstäbliche Faustregel: Im Frühling beginnt der Krieg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag