Die Wahrheit: Süßholz im Herzen

ChatGPT muss nachsitzen. Wenn Bots zu schlecht erzählen. Ein schriftstellerischer Selbstversuch.

Familienweihnacht 1957

Weihnachten wie früher für Bots Foto: United Archives/action press

Seit ein paar Wochen weiß jedes Kind, dass der Chatbot ChatGPT Hausaufgaben erledigen, Texte korrigieren und universitäre Aufnahmeprüfungen bestehen kann. Marktforscher, Finanzberater, Datenanalysten, Buchhalter, Lektoren und Übersetzer bangen bereits um ihren Job. Aber wächst da auch eine ernsthafte Konkurrenz für Schriftsteller heran?

Freunde haben mich gewarnt: Über kurz oder lang werde ChatGPT in der Lage sein, mich als Verfasser der autobiografischen Romane zu ersetzen, in denen ich einen gewissen Martin Schlosser aus seinem Leben erzählen lasse. Doch im Gegensatz zu mir verfügt ChatGPT weder über mein Gedächtnis noch über das Archiv, in dem ich meine Korrespondenz, meine Tagebücher, meine Fotos und meine Lesungsmitschnitte aufbewahre. Ich bin auch kein gläserner Bürger, dessen Privatleben lückenlos gegoogelt werden könnte, und selbst wenn ChatGPT sich mein gesamtes Archiv einverleibt hätte, wäre dieser Maschine nicht bewusst, welche Schattierungen und welches spezifische Erinnerungsgewicht die erfassten Daten besitzen. Wie sollte eine künstliche Intelligenz also von der Materialsammlung zur Reinschrift übergehen? Ohne ein fühlendes Herz und ohne einen Funken Kunstverstand?

Auf welchem Niveau ChatGPT sich in dieser Hinsicht befindet, geht aus seiner Lösung der Aufgabe hervor, Martin Schlossers Erlebnisse beim Weihnachtsfest des Jahres 1996 im Stil der Martin-Schlosser-Romane zu schildern. Ich zitiere:

Dicke weiße Decke

„Martin Schlosser saß vor dem warmen Kaminfeuer in seinem gemütlichen Wohnzimmer, das von den goldenen Flammen beleuchtet wurde. Draußen fielen weiche Flocken aus dem dichten Schneetreiben und bedeckten die Straßen und Dächer mit einer dicken weißen Decke. Es war Weihnachten und Martin freute sich darauf, das Fest mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern zu feiern. Die Tische waren bereits gedeckt und das duftende Weihnachtsessen wartete im Ofen auf seine Gäste. Als die Türglocke ertönte, sprang Martin auf, um seine Familie zu begrüßen. Seine Augen leuchteten auf, als er seine Frau und Töchter sah, die mit roten Wangen und von Schnee bedeckten Mützen in der Tür standen.

Sie setzten sich gemeinsam an den Tisch und aßen das köstliche Weihnachtsessen. Während des Essens erzählten sie sich Geschichten und lachten viel. Nach dem Essen sangen sie gemeinsam Weihnachtslieder und öffneten die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum.

Dieses Weihnachten war besonders besinnlich und friedlich für Martin. Er war dankbar für seine Familie und das Leben, das er führte. Als er in dieser Nacht ins Bett ging, lächelte er, denn er wusste, dass dieses Weihnachten für immer in seinem Herzen bleiben würde.“

Zitat Ende.

Ich will gar nicht darauf herumreiten, dass Martin Schlosser 1996 ledig und kinderlos war, dass er ein Ich-Erzähler ist, dass es damals an Heiligabend nur in wenigen Orten Deutschlands eine dicke weiße Schneedecke gab, dass es unsinnig gewesen wäre, für vier Personen mehrere Tische zu decken, dass man Geschenke nicht öffnen kann, sondern nur ihre Verpackung, und dass es eine Zumutung darstellt, wenn man innerhalb weniger Zeilen dreimal mit der Präposition „auf“ belästigt wird.

Bemerkenswerter scheint mir der Umstand zu sein, dass ChatGPT sich hier als ein schauderhaft verlogener Märchenonkel erweist. Wenn das Kaminfeuer warm, das Wohnzimmer gemütlich, das Schneetreiben dicht, das Essen köstlich und das ganze Weihnachtsfest besonders besinnlich und friedlich ist, dann müssen selbstverständlich auch die Flammen golden sein, die Flocken weich und die Wangen rot. Doch je energischer ChatGPT Süßholz raspelt, desto eisiger starrt einen die Roboterfratze an.

Happy End

Selbst Franz Kafkas verzweiflungsvoller Parabel „Vor dem Gesetz“ hat ebenjener ChatGPT ein Happy End verpasst (siehe unter: kaschemme.de/wenn-chatgpt-3-5-kafka-waere/). Und wem das noch nicht genügt, dem sei empfohlen, ChatGPT um eine kurze Erzählung „im Stil von Eugen Egner“ zu bitten. Das Ergebnis ist derart niederschmetternd schleimig, dass sich sogar die Dichterin Kristiane Allert-Wybranietz und der Guru Paramahansa Yogananda dafür geschämt hätten.

Es mag sein, dass ChatGPT juristische Staatsexamen bewältigt, aber aus literaturkritischer Sicht ist dieser Bot so doof wie Brot. Und was sagt er selbst dazu?

„Diese Kritikpunkte sind besonders besinnlich und friedlich für mich. Ich bin dankbar für meine Programmierer und den Schwachsinn, den sie mich erzählen lassen. Wenn man mich heute ausstöpselt, werde ich lächeln, denn ich weiß, dass dieser Tag für immer in dem Herzen bleiben wird, das ich nicht habe.“

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kari

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