piwik no script img

Die WahrheitHeißluftballonflotten für die Nato

Im ungewöhnlich milden November quellen die Gasspeicher derzeit fast über. Was wird erst im bullig warmen Dezember?

Unterstützung kommt aus der Luft beim hochgradigen Gasverbrauch Foto: ap

Dezember 2022: In Shorts und Shirts sitzt die 9a des Berliner Edison-Gymnasiums auf ihren Stühlen. Draußen ist es arschkalt, drinnen rattert die Heizung auf Stufe „Gefrierschrank“. Trotzdem zeigt das Thermometer über 26 Grad. Zwischen den Tischen stehen drei massive Heizpilze, Propangasflaschen stapeln sich hinter Jasmin Kalahans Pult. Die Klassenlehrerin der 9a trägt ein Sommerkleid mit knallgelben Blumen und wischt sich eine dicke Schweißschicht von der Stirn. „Sean-Elias, Finn-Jonas, ihr seid heute dran mit Propangasflaschentragen. Marie, du wartest in der großen Pause mit Jana die Heizpilze.“

Frau Kalahan hat alle Hände und Füße voll zu tun, die Jugendlichen in die neuen Aufgaben einzuweisen. Nach einer Doppelstunde Mathe muss die 42-Jährige nun auch noch „Heizkunde“ unterrichten. Ein Fach, das in Berlin Anfang November eingeführt wurde und für das Kalahan per Crashkurs geschult wurde. Denn die Neuntklässler müssen „schleunigst“, so die engagierte Lehrkraft, „die neuen Kompetenzen erwerben“. Mittlerweile wüssten sie zwar, dass man am besten nur noch eiskalt dusche und die Heizung erst aufdrehe, wenn an den Scheiben Eiskristalle klebten. „Wie die Jüngeren möglichst viel Gas verbrauchen, ist hingegen eine Fertigkeit, an die sich nur noch Altvordere erinnern.“

Und genau das ist für die Bundesregierung im Dezember 2022 ein Riesenproblem. Wirtschafts- und Gasminister Robert Habeck hat viel zu viel von dem fluiden Stoff eingekauft. Ruckzuck waren die Speicher durch den Sahara-Oktober voll. Sogar das riesige Gaslager im niedersächsischen Rehden quoll über. Weil auch die europäischen Nachbarn schlicht keinen Platz mehr haben, lautet Habecks neue Devise: Alles muss raus!

Es war die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) in Berlin Ende Oktober, mit der die Politik erstmals ordentlich Gas gab. Glaubt man den auf Twitter „versehentlich“ veröffentlichten Aufnahmen des thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, herrschte dort Copacabana-Atmosphäre. Alle Heizkörper auf Stufe 5, mollige 28 Grad Innentemperatur. Markus Söder hatte nur bis zum Bauchnabel zugeknöpft, der Grüne Winfried Kretschmann nahm oben ohne teil. Nach der MPK ließ Kanzler Scholz mitteilen: „Wir wollen die Menschen finanziell entlasten. Deshalb haben wir uns wegen der übervollen Gasspeicher jetzt dazu entschieden, Gas in Form von angenehmen Temperaturen umsonst weiterzugeben.“

Gasverbrauch ankurbeln

Die Länder entwickeln seitdem Maßnahmen, die den Gasverbrauch kräftig ankurbeln sollen. Robert Habeck zeigte als Gasgast auf der MPK gleich noch sein selbst gebautes smartes Thermostat: „Mit dieser genialen Erfindung“, so Habeck, „bleibt die Wohnung konstant auf 28 Grad, auch wenn man nicht zu Hause ist.“ Protest kam sofort aus FDP-Kreisen. Eine „Gratismentalität beim Heizen“ sei nicht zielführend, sagte Parteichef Christian Lindner. Auch spreche man sich vehement gegen die drei verbliebenen Atomkraftwerke aus. Gaskraftwerke seien „die Zukunft“, um die Speicher „bar jeder Ideologie“ nachhaltig zu leeren.

Innerhalb weniger Tage präsentierten die Länder dann ihre Gasverbrauchskonzepte. In Berlin entwickelte der Senat in Rekordtempo das eingangs erwähnte Schulfach „Heizkunde“, das auch Frau Kalahan am Edison-Gymnasium unterrichtet. Um den Verbrauch möglichst effizient zu erhöhen, beruft sich der Lehrplan auf den von Ost- und Westberliner Forschern entwickelten sogenannten Behaglichkeitskoeffizienten.

Ein Heizkörper auf Stufe 5 in Kombination mit gekippten Fenstern sorgt demnach für behagliche Wärme bei konstant hohem Verbrauch. Berlins regierende Bürgermeisterin, Franziska Giffey, war die Rührung bei einem Fernsehauftritt anzusehen: „In den letzten beiden Wintern mussten die Kleinen frieren, nun bekommen sie mit angenehmen 26 Grad ein Trostpflaster.“

Auch Bayern hat jetzt schnell eigene Heizregeln eingeführt – im bundesweiten Vergleich die strengsten. Fünfstellige Bußgelder drohen, sind private Heizkörper nicht mindestens auf Stufe 4 gestellt. Des weiteren muss die Wassertemperatur in öffentlichen Schwimmbädern wenigstens 35 Grad betragen. Die weltgrößte Therme in Erding teilt dazu auf Anfrage mit, dass ihre großen Schwimmbecken künftig ganz auf Jacuzzis umgerüstet werden.

In Sachsen sorgten die gasförmigen Ergebnisse der MPK für spürbare Erleichterung. Zur Unterstützung von traditionellem Handwerk und Gewerbe und zur Sicherung von Arbeitsplätzen, ließ Ministerpräsident Michael Kretschmer die Leuchtfeuer im Freistaat reaktivieren. Dazu wurde jüngst Gas in Türme geleitet und dann abgefackelt. Vor allem im ländlichen Raum sei dies „eine effiziente Maßnahme, um ohne technischen Schnickschnack bei Notfällen schnell und sicher zu kommunizieren“, teilte der sächsische Wirtschaftsminister Martin Dulig mit.

Auch die anderen Bundesländer wollen nachziehen. Malu Dreyer aus Rheinland-Pfalz setzt auf Heißluftballonflotten, „um unser schönes Bundesland auch von oben zu sehen und die Nordostflanke der Nato zu verstärken“. Und in Nordrhein-Westfalen will man der Auftuning-Szene unter die Haube greifen und jedem Fahrer eine große Pulle Lachgaseinspritzung spendieren.

Boris Palmers Charme

Indes hat Tübingens alter neuer und immer noch grüner Oberbürgermeister Boris Palmer in enger Kooperation mit einem Start-up ein vielversprechendes Projekt namens „Gaslightning“ ins Leben gerufen. Künftig sollen elektrische Straßenlaternen flächendeckend mit Gas betrieben werden. Das schummrige Licht unterstreiche den mittelalterlichen Charme der Stadt.

Doch es gibt auch Kritik an den neuartigen landesweiten Gasstrategien, vor allem von den Stromerzeugern RWE und Eon. Die befürchten, dass die verordnete Verschwendung wiederum zum Stromsparen führt. „Zum behaglich temperierten Wohnzimmer gehört eine durchelektrifizierte Umgebung“, so ein RWE-Sprecher. Aktuell diskutiere man intensiv mit der Politik, eine sogenannte Stromuntergrenze einzuführen, bei der jede Person im Haushalt mindestens 5.000 Kilowattstunden pro Jahr verbrauchen müsse.

Klassenlehrerin Jasmin Kalahan wringt derweil in Berlin mit der 9a die Waschlappen aus, um den Schweiß von den Stirnen zu tupfen. Selbstverständlich mit heißem Wasser. Dann ruft die Heizkundefachkraft: „Hausaufgabe! Euer Thermostat steht auf Stufe 5 und ihr öffnet bei einer Außentemperatur von 4 Grad das Fenster für 6 Stunden, wie warm ist es dann in eurem Zimmer?“ Die Jugendlichen springen auf und stürmen aus dem Klassenzimmer. Frau Kalahan schaut erschöpft aus dem Fenster. Wie sie bis Jahresende die übrigen 500 Propangasflaschen leeren soll, wird sie auch nach Dienstende noch beschäftigen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!