Die Wahrheit: Die Personenverfolgung
Wenn es so ist, dass Gegenstände verschwinden, also auch Menschen, und das vor den Augen des Betrachters, und andere erscheinen von selbst: was dann?
U rsprünglich war geplant gewesen, den alten Hauptbahnhof zu „modernisieren“, doch dann hatte die private Bahngesellschaft sich aus Kostengründen dafür entschieden, die Stadt vom Streckennetz zu trennen. Damit das nunmehr obsolete Gebäude nicht zum Aufenthaltsort unerwünschter Randgruppen verkam, war der Bahnhof zugemauert worden.
Seitdem gab es – erst vereinzelt, dann mit penetranter Häufigkeit – Berichte über Personen, die angeblich aus dem zugemauerten Hauptbahnhof „hervorgingen“. Es hieß, sie wiesen eine einfache Normalform von gleichmäßiger Konvergenz auf und seien vielleicht das Ergebnis der Hintereinanderschaltung von Drehung und Spiegelung auf Molekularebene. Besonders gern wurden diese Personen mit Phantastereien in Zusammenhang gebracht, zum Beispiel dem „geheimen Austausch von Menschen“.
Dem nun Folgenden muss ich die Erwähnung einer speziellen Eigenart von mir vorausschicken. Hin und wieder verschwinden Gegenstände, also auch Menschen, vor meinen Augen, und andere erscheinen von selbst. Als ich mich eines Vormittags mit unklaren Absichten bei den kleinen kastenartigen Holzhütten auf dem früheren Bahnhofsvorplatz herumdrückte, beobachtete ich, wie eine fremde Person den zugemauerten Hauptbahnhof durch eine sonst nicht vorhandene, sich hinter ihr sofort schließende Öffnung verließ. Niemand außer mir war Zeuge.
Unbemerkt hinein in den Hausflur
Die dezent gekleidete Person trug eine Reisetasche. Als gehende Frau bewegte sie sich zielstrebig zwischen den Holzhütten hindurch in Richtung Innenstadt. Sehr vorsichtig folgte ich ihr ins Stadtzentrum, wo sie den Seiteneingang eines Kaufhauses betrat. Ich schlich ihr unbemerkt in den Hausflur nach.
Die Frau blieb vor einer Tür stehen und drückte den dazugehörigen Klingelknopf. Im selben Moment verschwand sie vor meinen Augen. Ein derartiger Vorgang war mir zwar prinzipiell bekannt, doch jetzt empfand ich ihn als besonders enttäuschend. Welch schnödes Ende der Verfolgung!
Auf dem Hausflur war leises Harmoniumspiel zu hören. Ein Kind kam und führte mich zum hinteren Bereich des Erdgeschosses. Dort hörte ich andere, wie mit primitiven Blasinstrumenten erzeugte Geräusche. „Bitte, hier hinein“, sagte das Kind, indem es die Tür am Ende des Flurs öffnete.
Ich erblickte einen mit leidend zitternder Stimme psalmodierenden Menschen und sonst nichts. „Ja, ja“, gab das Kind schuldbewusst zu, „ich hätte es Ihnen nicht zeigen dürfen. Aber Sie werden mir noch danken, wenn Sie erst verstehen, weshalb ich es tun musste.“
Der psalmodierende Mensch jonglierte mit kleinen Hunden, schlug ohne jedes Taktgefühl eine Trommel und platzte zuletzt. Dabei entstand keine Verunreinigung des Raums, sondern nur anhaltendes Schnarchen. Ich fiel stehend in tiefen Schlummer. Beim Erwachen nach etwa zwei Stunden fühlte ich mich gut ausgeschlafen.
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