Die Wahrheit: Die im Unsichtbaren blühen
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (153): Algen sind chimärenhafte Wesen, die sich binnen kurzer Zeit verwandeln können.
Blaualgen sind weder Pflanzen noch Tiere, sondern Bakterien. Bilden sie kugelige Kolonien, nennt man sie „Teichpflaumen“, kommt es bei ihnen zur „Algenblüte“, werden sie giftig – was jetzt in der Oder geschah. Einige dieser heute „Cyanobakterien“ genannten Algen betreiben einen im Tag-Nacht-Rhythmus wechselnden Stoffwechsel: tagsüber Photosynthese und nachts Stickstofffixierung. Dies ist laut Wikipedia „nach heutigem Wissensstand einmalig“.
Kieselalgen sind einzellige Algen, auch Diatomeen genannt, die sich mit einer Zellhülle aus Siliziumdioxid umgeben, deswegen heißen sie Kieselalgen. Die Art Thalassiosira pseudonana war der erste marine Mikroorganismus, dessen gesamtes Genom sequenziert wurde. Geo nennt diese Art eine Chimäre, weil sie wie wir Harnstoff produziert, aber über einen pflanzlichen Fettstoffwechsel verfügt. Die chemische Verbindung des Harnstoffs nutzt die Kieselalge als Energiequelle.
Weder Tier noch Pflanze
Zum Fettabbau verfügt sie über zwei unterschiedliche Methoden: In ihren Mitochondrien, den „Zellkraftwerken, findet sich ein Abbauprozess, wie er auch bei Tieren abläuft. In anderen Organellen zerlegt die Alge Fettsäuren wie eine Pflanze. „Hier scheint die Grenze zwischen Tier- und Pflanzenreich zu verschwimmen.“ Einst hatte die Kieselalge andere Einzeller „in sich aufgenommen“, so Geo. Ein internationales Forscherteam fand sie als Organellen, die wohl aus einer Symbiose mit Rotalgen stammen.
Auch bei der einzelligen Grünalge Chlamydomonas reinhardtii wusste man lange nicht, ob sie eine Pflanze oder ein Tier ist. Einerseits verfügt sie, um Photosynthese zu betreiben, über Chloroplasten, die einen roten „Augenfleck“ haben, andererseits hat sie zwei Geißeln, mit denen sie sich lichtgesteuert fortbewegen kann. Zwei US-Biologen haben laut FAZ in einer Analyse der Proteine von C. reinhardtii festgestellt, dass sie „mehr Pflanze als Tier“ ist. Was sie von Pflanzen unterscheidet, sind „Gene für die Ausbildung des Bewegungsapparats“. Von den Menschen unterscheidet sie sich durch „1.879 Proteinfamilien“, die nur Pflanzen besitzen. Diese einzellige Alge kann sich in kurzer Zeit in einen vielzelligen Organismus verwandeln.
Der italienische Bioingenieur Julian Melchiorri hat mit der Grünalge gebastelt. Heraus kam dabei ein „lebendiger Algen-Kronleuchter“, der das Zimmer erhellt und angeblich so viel Sauerstoff wie 100 Hektar Wald produziert. Eine andere Grünalge, die auf Spitzbergen vorkommt, wurde auf ihre Widerstandsfähigkeit getestet, indem man sie für 530 Tage an der Außenseite der internationalen Raumstation ISS anbrachte – sie überlebte.
Ästhetische Algen
Die holländische „Unterwasserautorin“ Miek Zwamborn beschäftigt sich mit der Ästhetik von Algen. Dazu hat sie Herbarien von Algologen und die Algenpoesie von Dichtern und Musikern studiert. In ihrem Buch „Algen'“ (2019) erwähnt sie Andreas Greiner, der in einem abgedunkelten Raum ein Salzwasseraquarium auf die Saiten seines Klaviers stellte, in dem „Meeresleuchttierchen, einzellige Algen, schwammen, die bei Vibrationen aufblitzen“. Ein anderer Musiker entlockte einer Wasserpflanze mit einem Unterwassermikrofon Töne: Sie werden hervorgerufen durch „tausende kleine Sauerstoffbläschen“, die von der Pflanze beim Wachstum abgegeben werden.
An der Küste Frankreichs gab es noch Anfang des 20. Jahrhunderts Tangsammler, -mäher und -fischer. Sie trockneten die Algen und verbrannten sie. Die Asche diente zur Schießpulverherstellung, das Kaliumcarbonat darin war für die Seifen- und Glasindustrie. Die Algen wurden auch als Heilmittel für verschiedene Leiden sowie als Nahrungsmittel gesammelt. In Nordeuropa trieben die Bauern ihre Viehherden im Winter an den Strand, wo sie sich von dem angeschwemmten Tang ernährten.
Die Japaner haben besonders viele Algengedichte und -gerichte: In ihrem Darm leben Bakterien, „die dasselbe stärkespaltende Enzym wie ein Meeresbakterium produzieren. Offenbar haben ihre Bakterien das Gen im Laufe der Zeit übernommen“, schreibt der Spiegel. In Europa isst man nun auch gerne Sushi, aber unsere Darmflora braucht noch eine Weile, bis wir die Algen darin ebenfalls verdauen können.
Carl von Linné zählte die Algen in seiner Systematik zu den „Verborgenblütern“, weil sie „auf eine für uns unsichtbare Weise blühen“. Um 1940 entdeckte eine britische Algologin jedoch den „komplexen Fortpflanzungszyklus der Rotalge“. In ihrer Heimat interessierte sich niemand dafür, wohl aber die Algenzüchter in Japan, denen damit schon bald nach dem Krieg eine lukrative Algenproduktion gelang. 2017 trafen sich 120 Algenspezialisten zu einem Kongress, „um die aufstrebende europäische Algenzucht und die Möglichkeit, Kraftstoff aus Algen zu gewinnen, voranzutreiben“.
In der Sowjetunion fasste man bereits ab 1933 Nutzungsmöglichkeiten für die Algen ins Auge – und zwar im ersten Gulag auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer. Forschungsleiter war dort das Universalgenie Pawel Florenski. Als Ikonenverehrer begriff er die Zentralperspektive als eine „Maschine zur Vernichtung der Wirklichkeit“. Weil er in seinem Werk „Imaginäre Größen in der Geometrie“ Dantes „Göttliche Komödie“ mithilfe der Relativitätstheorie interpretiert hatte, war er auf der Gefängnisinsel inhaftiert worden, wo er bei der Gewinnung von Jod und Agar-Agar aus Algen helfen sollte. Es gelang ihm, zehn Patente dafür anzumelden.
Ebbe, Flut und viele, viele Algen
Daneben hielt er dort fast täglich wissenschaftliche Vorträge über Algen und schickte Briefe an seine Familie – 2001 im Anthroposophenverlag Pforte unter dem Titel „Eis und Algen“ veröffentlicht. Im ersten Brief an seine Frau schrieb er: Eigentlich sei er mit seiner Isolierung auf den Solowetzki am Ziel seiner Wünsche angelangt. Als Jüngling habe er immer davon geträumt, ins Kloster zu gehen, jetzt lebe er im Kloster, nur dass es eben ein Lager sei. Als Kind sei es sein sehnlichster Wunsch gewesen, auf einer Insel zu wohnen, Ebbe und Flut zu erleben und sich mit Algen zu befassen. „Nun bin ich auf einer Insel, hier herrscht Ebbe und Flut, und ich habe mit Algen zu tun.“
1934 schrieb er seinem Sohn Michail: „Die Stürme werfen die Algen auf den Strand, wo sie Wälle von mehreren Kilometern Länge, 1 1/2 Metern Höhe und mehreren Metern Breite bilden. Man kann aus Algen viele verschiedene technisch wichtige Stoffe gewinnen: einen Klebstoff, das Algin, dann Zellulose, Mannit, Lösungsmittel für die Lackindustrie, Kalisalze usw. Vorerst wird hier aus den Algen aber nur Jod gewonnen; die Algen werden zu Asche verbrannt, dann wird die Asche in Lauge gewaschen und in diesem Wasser das Jod aus dem Kaliumjodid freigesetzt. Die Asche enthält auch noch Chlorkalium, schwefelsaures Kalium, Soda, Bromkalium und andere nützliche Stoffe. Ich küsse Dich innig, lieber Mik. Folge Mamma, sei lieb zu ihr und vergiß Deinen Papa nicht.“
Nachdem Pawel Florenski seine industrielle Algenproduktion aufgebaut hatte, kam sie aufs Festland – und er wurde 1937 erschossen. Im Jahr 2000 sprach man ihn heilig.
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