Alltag einer Kieselalgen-Forscherin: Einzell-Schicksal

Regine Jahn bestimmt Kieselalgen mit dem Mikroskop. Heute geht ihre Arbeit schneller als früher. Weil sie sich gut auskennt - und weil es immer weniger Arten gibt.

Ohne Mikroskop nicht zu erkennen: Kieselalgen. Bild: dpa

BERLIN taz Es ist, als würde man eine Sprache lernen, sagt Regine Jahn. Am Anfang kennt man nur einige Worte und versteht kaum etwas. Aber je größer das Vokabular wird, je klarer einem die Strukturen erscheinen, desto schneller geht alles. Jahns Stirn lehnt auf ihrem Mikroskop. Sie schaut auf diese winzigen Wesen, die aussehen wie Blätter von Miniaturbäumen, wie Strickleitern für Ameisen. Graue Linien auf einem durchsichtigen Grund. Jahn erkennt sie alle, auf den ersten Blick: Navicula tripunctata, Amphora ovalis, Cyclotella radiosa und Melosira varians. Sie lernt diese Sprache jetzt seit über 25 Jahren.

Regine Jahn, 55 Jahre alt, ist Taxonomin, Präsidentin der Gesellschaft für Biologische Systematik. Sie ordnet Arten. Grenzt eine von der anderen ab, gibt ihnen Namen, wenn sie neue entdeckt hat, oder weist Kollegen darauf hin, dass das, was sie da für zwei unterschiedliche Arten halten, vielleicht doch ein und dieselbe ist. Die Wesen, mit denen Jahn sich befasst, bestehen aus einer einzigen Zelle und lassen sich ohne Mikroskop gar nicht erkennen. Sie heißen Diatomeen. Das ist die wissenschaftliche Bezeichnung. Auf Deutsch nennt man sie Kieselalgen. Sie messen wenige tausendstel Millimeter und produzieren ein Viertel des gesamten Sauerstoffs auf der Erde. Bisher sind 20.000 Arten bekannt. Etwa 60 davon liegen gerade gekocht unter Jahns Linse, auf einer Glasplatte, so klein wie ein Streifen Kaugummi.

Vielleicht gibt es insgesamt 1 Million Kieselalgen, vielleicht auch 10 Millionen. Es existieren jedenfalls deutlich mehr von ihnen, als Regine Jahn und ihre Kollegen kennen. Sie versuchen, daran etwas zu ändern. Ihre Arbeit ist eine Bestandsaufnahme. Will man es zynisch formulieren, kann man sagen: Es wird für sie immer einfacher. Der Bestand nämlich schrumpft. Die Arten verschwinden schneller von der Erdoberfläche, als die Forscher zählen können. Es gehen Tiere und Pflanzen verloren, von denen kein Mensch weiß, dass es sie jemals gegeben hat. Jahn identifiziert dagegen an. Sie ist so etwas wie eine Öko-Bibliothekarin, in deren Regalreihen es brennt. Sie hofft, dass sie trotz des Rauchs noch ein paar unbekannte Titel entdeckt, das eine oder andere Exemplar. Man müsste viel mehr über die Anzahl, das Wesen der Arten wissen, findet Jahn. Damit wir uns einmal erinnern können, was alles da gewesen ist, bevor wir es zerstört haben. "Wir sind die Leute, die wissen, was es gibt", sagt sie. Aber auch die Taxonomen selbst könnten aussterben. Davor hat Jahn Angst.

In Deutschland gibt es nur noch wenige hundert Systematiker. Und sie werden seltener. Anders als bei Kollegen, deren Ergebnisse in Landwirtschaft oder Pharmaindustrie angewandt werden, sind ihre Erkenntnisse meist nicht verwertbar. An den Universitäten, die für ihre Forschung gern Gelder von privaten Firmen anwerben, hat die Taxonomie deshalb einen schweren Stand. Zumal es das Fach als solches gar nicht gibt. Regine Jahn ist zunächst einmal Algenforscherin. Und dann erst Taxonomin.

Sie hat ihr Büro im zweiten Stock des Botanischen Museums in Berlin. Der alte Schreibtisch biegt sich unter Büchern und Papieren. Neben dem Mikroskop stehen einige Plastikdosen. Der Computer röchelt monoton, draußen zwitschert eine Amsel. Vielleicht auch eine Schwarzdrossel, Jahn ist sich nicht ganz sicher. Sie trägt eine braune Cordhose, die hennaroten Haare mit den grauen Strähnen zum Zopf. Mit den Algen hat sie eigentlich mal angefangen, um für ihre Dissertation herauszufinden, wie verschmutzt die Spree ist. Diatomeen sind gute Bioindikatoren. Je mehr verschiedene Arten es in einem Gewässer gibt, desto besser ist die Wasserqualität.

In den besonders trüben Tümpeln finden sich immer dieselben Exemplare. "Schmutzfinken", nennt Regine Jahn die. Früher konnte sie noch klar erläutern, wofür das gut war, wenn sie sich mit ihren Probendöschen über die Kanäle beugte und die grünen Ablagerungen vom Uferrand schabte: Wasserqualität bestimmen! Sie ist dann nach der Promotion bei den Algen geblieben und hat den praktischen Nutzen, der sich so schön erklären lässt, aus den Augen verloren, während sie ihre Stirn ans Mikroskop drückte und die Punkte auf den beinahe durchsichtigen Kreisen zählte, um herauszufinden, was das für eine Kieselalgenart war. Sie hat Fotografien davon gemacht und sich tagelang vor diese Aufnahmen gesetzt.

Ein Vierteljahr hat es gedauert, bis sie sämtliche Arten in ihrer ersten Probe identifiziert hatte. Sie war einmal kurz davor, aufzugeben. Ganz zu Anfang. Die Algen schienen wie ein undurchdringlicher Wust aus Linien und Kreisen. Ein Kommilitone zeigte ihr, woran man sich orientieren kann. Welche Punkte es zu zählen lohnt. Nach und nach erkannte sie einzelne Exemplare und schlug sie im Lexikon nach. Es gab noch kein Internet und schon gar nicht die Datenbank Algaterra, die Jahn mit einem Kollegen inzwischen herausgibt. Die Arbeit ging mühsam voran. Heute würde sie für dieselbe Probe nicht drei Monate, sondern wenige Stunden brauchen. Sie hat in all diesen Jahren Kieselalge für Kieselalge gelernt wie die Vokabeln einer Hieroglyphenschrift.

An ihrem Algenwortschatz konnte sie nach der Promotion weiterarbeiten, weil sie die Stelle am Botanischen Museum bekam. Hier ist die Frage nach dem Nutzen nicht so drängend wie an den Universitäten. Was bringt ihre Arbeit konkret? Den Menschen ein schlechtes Gewissen, weil sie merken, was hier gerade alles verloren geht? Brauchen wir das?

Regine Jahn wurde Kustodin, Hüterin des Herbariums, der riesigen Pflanzensammlung mit ihren drei Millionen Belegen. Die Exemplare lagern in hunderten grauen Schüben. Aktenmappe über Aktenmappe. Dicke Wände und eine Stahltür schützen den Schatz. Im Zweiten Weltkrieg hatte eine Bombe große Teile der Sammlung zerstört. Jahn klappt eine Mappe auf: "Toll, super, die Japaner." Ein Museum hat ihr Algen geschickt. Sie betrachtet die plattgepressten braunen und violetten Verästelungen. "Einfach schön", sagt sie. Manchmal steht sie vor den Pflanzen wie eine Kunstliebhaberin. Die Belege für ihre Diatomeen stecken wie wertvolle Ringe in kleinen Plastikschachteln. Golden glänzende runde Stücke, die ihren Inhalt erst unter dem Elektronenmikroskop preisgeben. Jahn entwickelt gerade ein Verfahren, mit dem sich die Art anhand der DNA bestimmen lässt. Genanalyse. Was sie selbst jahrzehntelang lernen musste, könnte ein Computerprogramm dann in wenigen Minuten erledigen.

Der Blick durch das Mikroskop, in diese überbevölkerte Miniaturwelt hinein, hat ihre Perspektive nicht verengt, sondern eher erweitert. Für eine, die einen Großteil ihrer Arbeitszeit gepunkteten Kreisen und länglichen Stäbchen widmet, die kaum sichtbar durchs Wasser treiben, ist sie der Welt äußerst zugewandt. Witzig, ironisch, auch zu sich selbst, aber voll ernsthafter Sorge um die Umwelt. Carl von Linné lieferte 1753 das System für ihre Arbeit. Erst die Gattung, dann die Art, danach der Autor, der sie als Erster identifiziert hat, und zuletzt das Jahr, in dem das geschah. "Homo sapiens Linné, 1758". Das ist der Mensch. "Navicula geisslerae R. Jahn, 1992". Das ist die erste Kieselalgenart, die Regine Jahn beschrieben hat.

In ihrem Büro liegt eine bunte Broschüre der Bundesregierung über deren neue Strategie zur Biodiversität. "Ein fantastischer Forderungskatalog", sagt die Algentaxonomin. Obwohl sie das ernst meint, klingt es ein bisschen wie: guter Witz.

"9 Uhr bei Langenburg gefischt"

Förderung wird darin auch für das GBIF-Projekt versprochen. Die Global Biodiversity Information Facility soll das Wissen aus den Naturkundesammlungen bündeln, um einen Überblick über die Artenvielfalt zu schaffen. Die deutsche Stelle dieses Netzwerks verwaltet ein Mitarbeiter im Botanischen Museum. Geld dafür bekommt er vom Forschungsministerium allerdings seit einem Jahr keines mehr. Auch die "Ausbildungsinitiative Taxonomie", die das Fachgebiet stärken sollte, ist mittlerweile irgendwo zwischen Bund, Ländern und Universitäten hängen geblieben.

Es gibt trotzdem Hoffnung. Auf einer Systematikkonferenz vor ein paar Tagen waren etwa die Hälfte der Referenten Studenten. Nachwuchs. Das macht Jahn ein wenig zuversichtlich. In ihrer Museumsnische lässt sie sich ihre Freude am Algentaxieren ohnehin nicht vermiesen. Vor einigen Jahren stand eine Technische Assistentin mit einem Karton voller Proben in ihrer Tür, die eine deutsche Expedition Ende des 19. Jahrhunderts vom afrikanischen Nyassa-See mitgebracht hatte. In irgendwelchen Kellern des Museums hatten sie überlebt. Jahn fand heraus, dass Nyassa heute Malawi heißt, öffnete die Fläschchen mit den vergilbten Etiketten, entzifferte die altdeutsche Schrift - "Um 9 Uhr bei Langenburg gefischt" -, legte die Funde unters Mikroskop und begann die Algenarten jenen zuzuordnen, die erst ein gewisser Friedrich Fricke und schließlich ein Otto Müller beschrieben hatte. Unter dem Titel "On Otto Müllers concept of the genus Gomphocymbella" konnte sie dann auf dem 13. Diatomeen-Symposium ein paar Dinge geraderücken. Ganz nebenbei ließ sich mit den Proben aber auch feststellen, wie gut das Wasser in dem See am Ende des 19. Jahrhunderts gewesen war. Viel besser als heute. "Man möchte so etwas manchmal gar nicht wissen", sagt Regine Jahn. Wenn es Leute wie sie nicht mehr gibt, dann weiß man es eines Tages wohl auch nicht mehr.

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