Die Wahrheit: Zurück in der Umarmerei
Abknutschen adé: Corona war diesbezüglich ein Segen. Plötzlich Drück-und-Küss-Pause. Wie schnell man sich doch entwöhnte – bis wieder Besuch kam …
I ch bin größtenteils in den siebziger Jahren aufgewachsen. Wenn sich damals Teenager begegneten, nickten sie sich cool zu und sagten „Hi“. Bestenfalls nahmen sie kurz Augenkontakt auf. Erwachsene schüttelten sich mit festem Griff die Hände. Punkt. Ausnahme: Man verabschiedete einen Blutsverwandten oder jemanden, mit dem man regelmäßig Körperflüssigkeiten austauschte zu einer langen Reise. Oder sah ihn nach einer solchen wieder.
Mit Verwunderung nahmen wir die Begrüßungsrituale anderer Völker zur Kenntnis: zwei angedeutete Wangenküsse in Griechenland, Italien und Frankreich (außer in Paris, da gabs vier), drei „Airkisses“ in Belgien und der Schweiz – und dann war da noch der sozialistische Bruderkuss. In Vollendung von Erich Honecker und Leonid Breschnew anlässlich des 30. Jahrestages der DDR praktiziert: links, rechts, links und dann mit Schmackes auf den Mund.
Jenseits des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands aber wurde hierzulande außerhalb der Familie weder geküsst noch umarmt. Das Land war geprägt von stoffeliger Stock-im-Arsch-Steifheit und immer einer Armlänge Distanz. Ich kam damit gut zurecht.
Dennoch beugte ich mich dem um die Jahrtausendwende einsetzenden sozialen Druck zur Drückerei. Aber wenn ich in ein Land zöge, in dem man sich zur Begrüßung an die Geschlechtsteile fasste – ohne dass das als Belästigung gelten würde –, gewöhnte ich mich vermutlich auch daran. Ehrlich gesagt, kommen mir die heute üblichen hugs and kisses auch oft noch so vor, als griffe mir jemand ungefragt ans Skrotum. Aber man will ja nicht als Sonderling gelten, also lasse ich es geschehen. Oder ließ.
Drück- und Küss-Pause
Corona war diesbezüglich ein Segen. Auf einmal war Drück-und-Küss-Pause. Und schnell entwöhnte ich mich wieder. Als ich im Sommer 2021 nach langer Zeit mal wieder dem in Irland lebenden Freund und Kollegen Ralf Sotscheck begegnete, hatte ich außer Freundin und Tochter seit eineinhalb Jahren niemanden mehr umarmt. Und nichts dabei vermisst.
Nun breitete Ralf seine Arme aus, und obwohl ich wusste, dass wir beide durchgeimpft waren, blockierte etwas in mir. Zunächst schoss mir das alte Bartleby-Credo durch den Kopf: „I would prefer not to!“ Aber das traf es nicht. Ohne zu wissen, was herauskommen würde, öffnete ich den Mund und stammelte: „Ralf … ich glaub, ich bin noch nicht so weit“.
Ralf schaute mich verwirrt an. Aber warm- und großherzig wie er ist, verzieh er diesen Affront. Als ich das am Telefon meinem Freund Matthias erzählte, der als Dramaturg im Theater noch mal in besonderer Form Körperlichkeit ausgesetzt ist, fragte dieser: „Darf ich das auf’n T-Shirt drucken?“
„Klar“, antwortete ich. Und dann entwarfen wir eine symbolische Distanz-Kollektion: „Nee, lass ma!“, „Stell dir einfach vor, wir hätten …“ und für die Jugend „xxx“. Ich gehe mal davon aus, dass die Kollektion demnächst im taz-Shop erhältlich sein wird.
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