Die Wahrheit: Sozialpornos mit Berührung

Schon klar, dass sich soziale Verwerfungen ansprechend für die sogenannte Hochkultur inszenieren lassen. Ändern an der Schieflage wird sich so nix.

Es gibt ein neues Modethema im Kulturbetrieb: „Klassismus“. Plötzlich stellt das Bildungsbürgertum fest, dass es in Deutschland Klassenunterschiede gibt. Und Armut. Nanu! Wer hätte das gedacht?! Und dass deswegen Menschen einen schlechteren Zugang zu Bildung und Kultur haben. Das ist ja … erschütternd! Menschen ohne Theaterabo und Bibliotheksausweis? Ohne Instrumentalunterricht? So was gibt’s?

Aber egal, scheint ja nun mal so zu sein. Also werden jetzt durchaus lesenswerte Bücher wie Christian Barons „Ein Mann seiner Klasse“ veröffentlicht, Theaterstücke zum Thema inszeniert und „Aspekte“ macht eine Sondersendung.

Man merkt den Kulturschaffenden an, wie betroffen sie sind. Also manchen. Anderen ist es wurscht, die nehmen es wie jeden anderen Trend: Migration? Super, da stellen wir ne Syrerin ein, die deckt auch noch den Fluchttopos ab, und zur neuen Spielzeit beantragen wir Fördergelder aus diesem neuen Integrationsfonds! Damit können wir dann noch eine Premiere mehr machen.

Echt jetzt? Wow.

Jetzt eben: „Klassismus“! Während das Thema auf der Bühne von allen Seiten durchreflektiert wird, sitzen im Zuschauerraum Mittelstandsakademiker und schauen sich den Sozialporno an: Ach?! So unsicher fühlt sich eine Bildungsaufsteigerin aus dem Prekariat also, wenn sie es doch irgendwie schafft, an einer Universität zu studieren? Wow.

Was allerdings nicht geschieht, ist, dass jemand mal in der Realität darüber nachdenkt, was die Schicht, aus der neunzig Prozent der im Kulturbetrieb Verantwortlichen stammt, mit diesen Verhältnissen zu tun hat.

Könnte der „Klassismus“ damit zusammenhängen, dass bei uns die Mehrheit der Gebildeten – auch der linksliberalen Kulturschaffenden – ihre Kinder weiter auf Gymnasien statt auf Gesamtschulen schickt? Und dass so alle schön unter sich bleiben und damit die soziokulturelle Segregation zementiert wird? Nein, das kann’s nicht sein.

Handapparat im Bildungsrucksack

Oder damit, dass man bei uns zur Hochkultur-Rezeption immer noch einen theater-, literatur- oder kulturwissenschaftlichen Handapparat im Bildungsrucksack mit sich herumschleppen muss? Nein, nein, auch das ist unwahrscheinlich. Außerdem wissen wir ja inzwischen, dass es quasi technisch unmöglich ist, intelligente und gleichzeitig für viele zugängliche Kunst zu produzieren.

Hat es am Ende gar etwas damit zu tun, dass es kaum noch kostenfreie Kultur- und Bildungsangebote jenseits der oft dysfunktionalen Schulen gibt? Dass arme Menschen kein Geld und oft auch überhaupt nicht die Kraft haben, sich um eine weitergehende kulturelle Bildung ihrer Kinder zu kümmern? Neeee …

Wahrscheinlich ist es einfach Pech. Schicksal. Keine Ahnung. Kann man wohl nix machen. Also schauen wir uns die Geschichten weiter auf den Bühnen an. Lesen die Bücher. Und sind gespannt, welches Thema danach kommt. Bestimmt auch wieder etwas total Berührendes.

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Autor, Theater-Dramaturg, Performer und Musiker. Hartmut El Kurdi schreibt Theaterstücke, Hörspiele (DLF / WDR), Prosa und für die TAZ und DIE ZEIT journalistische und satirische Texte. Für die TAZ-Wahrheit kolumniert er seit 2001. Buchveröffentlichungen (Auswahl): "Revolverhelden auf Klassenfahrt", "Der Viktualien-Araber", "Mein Leben als Teilzeit-Flaneur" (Edition Tiamat) / "Angstmän" (Carlsen) / "Als die Kohle noch verzaubert war" (Klartext-Verlag)

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

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