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Die WahrheitKollisionen mit den Königen

Wie können Elche dazu gebracht werden, Gefahren zu erkennen und auf Warnungen zu hören? Neue erstaunliche Erkenntnisse.

Illustration: Dorthe Landschulz

Was Elchen durch den Kopf geht, während sie durch nordeuropäische Wälder spazieren und Elchdinge tun, ist völlig unbekannt. Vielleicht denken sie Dinge wie „Mhhhh, lecker Blaubeeren“ oder „Verdammt noch mal, welcher Idiot hat denn die schöne große Pfütze leergetrunken?“. Oder sie überlegen, wie sie die Menschen mit den Gewehren im nächsten Herbst am unauffälligsten zu diesem unfassbar nervenden Trottel-Elch vom Revier nebenan locken könnten. Oder vielleicht denken sie auch gar nichts, man weiß es einfach nicht.

Ein Gedanke, der Elchen bedauerlicherweise nie kommt, lautet ­„Oooops, da nähert sich ein Zug, jetzt aber schnell runter von den Gleisen“. Allein in Norwegen starben durch Zugunfälle im vorigen Jahr 628 Elche. Das grundlegende Problem dabei ist, dass sich Alces alces, so der lateinische Name des Großschauflers, nicht verhält wie andere Tiere.

Die alten Römer hätte das nicht weiter überrascht, denn sie hatten ganz eigene Vorstellungen vom Wesen der Elche, die Plinius der Ältere beispielsweise als Rückwärtsgraser schilderte. Weil sie keine Knie hätten, könnten sie nicht geradeaus laufen und dabei Nahrung vom Boden abrupfen, sondern müssten dies tun, indem sie sich mit ihren Elchpopos voran durch die Gegend bewegten, erklärte er in seiner „Naturalis historia“.

Im fünften Buch von „De bello Gallico“ hatte bereits Julius Caesar Elche ebenfalls als ganz erstaunliche Wesen beschrieben. Weil sie an den Beinen weder Gelenke noch Sehnen hätten, könnten sie sich zum Schlafen nicht hinlegen, war sich der römische Feldherr sicher. Und wenn sie aus Versehen umfielen, seien sie nicht in der Lage, wieder aufzustehen. Jäger meinten, sich dies zunutze machen zu müssen, indem sie Baumwurzeln lockerten oder Bäume ansägten, damit die sich zum Schlafen daran anlehnenden Elche umfallen und bequem erlegt werden könnten.

Das entspricht natürlich alles nicht den Tatsachen, dennoch haben Elche eine Besonderheit, die alle, die sie beschützen wollen, zur Verzweiflung bringt: Die Tiere haben ganz eigene Vorstellungen davon, welche Geräusche oder Anblicke von einer sich nähernden großen Gefahr für ihr Leben künden. Und sie finden partout nicht, dass etwas, das großen oder ungewohnten Lärm macht, automatisch potenziell gefährlich sein könnte.

Gemächliche Waldbewohner

Jedes Jahr sterben deshalb allein in Norwegen, wo rund 150.000 der „skogens konge“, der Könige der Wälder, leben, rund 1.500 der Tiere durch Kollisionen mit Zügen und anderen Verkehrsmitteln. Ein glückliches Ende ist nicht absehbar, Biologen vermuten, dass die gemächlichen Elche wohl noch einige Tausend Jahre brauchen werden, um Züge, Autos, Lastwagen und Motorräder als mögliche Gefahrenquellen einzustufen.

Wie aber könnten die Tiere in der Zwischenzeit vor den Gefahren des modernen Verkehrs auf Schienen und Straßen geschützt werden? In der norwegischen Kommune Stor-Elv­dal wurde vor zwei Jahren ein großes Forschungsprojekt gestartet, mit dessen Hilfe verschiedene örtliche Hochschulen und die das Ganze finanzierende norwegische Bahn herausfinden wollten, welche Geräusche Elche am zuverlässigsten dazu bringen, ihren Aufenthaltsort zu verlassen.

Es sei, so begründeten die Forscher ihr Vorhaben, für die Tiere weit besser, wenn vor der Durchfahrt eines Zuges Fluchtreflexe ausgelöst würden, als wenn sie durch Schutzzäune an der freien Bewegung in der Landschaft gehindert werden. Solche Zäune hätten schließlich auch Auswirkungen auf andere Lebewesen – und außerdem werden solche Begrenzungen von Mensch und Tier auch immer mal wieder ganz gern kaputtgemacht.

Während der Winter 2020 und 2021 wurden in Stor-Elvdal zehn Fütterstationen mit jeweils drei Videokameras, Bewegungssensoren, Flutlicht, einer Fotokamera und Lautsprechern ausgestattet, über die den dort versammelten Elchen verschiedene Geräusche vorgespielt wurden. Vielerorts wird Elchen mit solchen Stationen dabei geholfen, über die harten Winter zu kommen, sodass die Stationen für sie nichts Ungewöhnliches sind.

Die Futterstellen für das Experiment waren bewusst so gewählt, dass flüchtende Tiere keinen neuen Gefahren ausgesetzt waren, also weder auf Straßen noch in Tunnel oder auf brüchiges Eis irgendwelcher Seen laufen konnten. Das kürzlich vorgestellte Ergebnis der Forschungen zeigt klar: Sich nähernde Züge bringen Elche kein bisschen aus der Ruhe. Selbst Hupsignale störten sie keineswegs beim Fressen oder gemütlichen Herumstehen.

Anders sah die Sache aus, wenn das Bellen eines „norsk elghund“ abgespielt wurde, einer Hunderasse, die in Norwegen, Schweden und Finnland für die Jagd auf Elche und Bären verwendet wird. Damit wurde sofort Gefahr assoziiert, was nicht gegen die Biologenthese spricht, dass Elche Tausende Jahre brauchen, um Geräusche als nicht harmlos und bedrohlich einzustufen: Vorformen der zur Rasse der Spitze gehörenden Hunde wurden in Norwegen bei Funden aus der Steinzeit entdeckt. 54 Prozent der Elche verließen die Futterstelle in schnellem Tempo, wenn über Lautsprecher gebellt wurde – insgesamt hatten die Tiere zwar durchaus Angst, aber der Fluchtreflex fiel nicht so eindeutig und allumfassend aus wie erwartet.

Monotone Forscherstimme

Viel mehr fürchteten sich die Elche hingegen vor der eingespielten Stimme eines Forschers, der in ruhigem, eher monotonem Tonfall erklärte, dies sei ein Experiment, über das auf Plakaten in der Nähe genauer informiert werde. Um den Verlauf der Tests nicht zu stören, bitte man darum, sich zügig woandershin zu bewegen, danke schön, so die Stimme.

70 Prozent der Elche bekamen Angst und liefen, teilweise sogar im für sie eher ungewöhnlichen Galopp, weg. Zu Beginn der Testphase waren es sogar fast 100 Prozent gewesen. Weitere Studien sollen nun erforschen, wie Geräusche genau beschaffen sein müssen, damit sich Elche zuverlässig von Gleisen entfernen und nicht in Panik an ihnen entlanglaufen. Vielleicht kann man ja wirklich Forscherstimmen als Warngeräusche einsetzen.

Außerdem muss geklärt werden, in welchem Zeitabstand zum Herannahen eines Zuges die Warnungen abzuspielen sind. Die Tiere sollen schließlich in die Lage versetzt werden, Geräusch und Ereignis miteinander zu verbinden, sodass künftig auch die Elche sich gewarnt fühlen, die sich weiter von Gleisen entfernt aufhalten. Außerdem soll mit automatisierten Warnlauten an Tunneleingängen experimentiert werden, weil es sonst keine Möglichkeit gibt, Elche daran zu hindern, dort hineinzuspazieren.

Was die Elche darüber denken, ist nicht bekannt.

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6 Kommentare

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  • 1G
    164 (Profil gelöscht)

    Großartige kleine Zeichnung. Hut ab, Dorthe Landschulz!

  • Warum drängt sich mir hier direkt F.W.Bernstein auf?



    "Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche..."

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      1/2



      *Willst du in die Blaubeeren gehen, musst du VORHER nach den Elchen sehen. Sonst…*

      HEUREKA. Sie haben es gefunden. DAS ist es. Da liegt das Problem, wenn auch auf vertrackte Weise: Es ist

      DER ELCH IN UNS ALLEN

      der hier zu diesen tragischen Unglücken führt.



      Es ist doch so, vor urdenklichen Zeiten, als der Mensch noch in kleinen Horden jagend und sammelnd über Tundren und durch finstre Nadelwälder schweifte, da sah er sich seinen tierischen Mitgeschöpfen als ein Wesen unter vielen gleichen tief verbunden. Zumindest in der Art, dass er sich bei ihnen vorher dafür entschuldigte, dass er sie verspeiste. Sich fressen taten die untereinander ja auch. Einige von ihnen erwählte der Mensch sogar als sein wesenhaftes „Leittier“, sein Totemtier. Mit fortschreitender Zivilisation wie die der oben erwähnten Römer etwa, verschwandt dieses tiefe Wissen aus dem Bewusstsein des Menschen. Die Römer schon wussten gar nicht mehr so genau, was für ein Tier der Elch ist. Aber dieses Wissen versank nur in uns, es verschwandt nicht. Jetzt zeigt sich eine Forschergemeinde zu Recht tief besorgt über das Schicksal der Elche hoch oben im Norden, so kurz ab hinter Flensburg. (1) Doch nicht nur dort. (2) Warum reagieren die Tiere ausgerechnet auf die Stimme eines Forschers und nicht auf die von ihm akribisch erkundete sonstige Geräuschkulisse? Aus IHM spricht wieder der Elch, der sich zu Wort meldet aus Sorge um das Leben seiner Kumpane.

    • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

      2/2



      Der Irrtum liegt darin, dass wir glauben, die Elche seien so ganz anders als wir. Nö, die sind genauso stur und verbockt. Beziehungseise haben wir das mit den Elchen gemein. WIR glauben, der Elch muss Platz machen, wenn der Zug kommt. Aber der Elch meint, wir und der Zug müssen Platz machen, wenn ER kommt. Er ist der King und eher geht er dabei drauf, als das ER jemanden Platz macht. Jetzt ist es raus. Erst die echte, elchgerechte Ansprache lässt sich den Elch anders bewegen. Der Elch will von Elch zu Elch angesprochen werden. D. h.: Von Mensch zu Mensch. Auf Augenhöhe. Mit konstruierten Grunz- u. Schnaublauten gibt sich der King doch nicht zufrieden. Da braucht es eine zivilisierte Ansprache.

      (1) Die Wahrheit über den Norden: *Hinter Hamburg beginnt die Arktis*



      (2) Wikipedia: „Die Ausbreitungsdynamik des Elchs zeigt sich auch in Mitteleuropa. In den letzten Jahren wurden Einzeltiere über längere Zeiträume in Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Hessen und Thüringen gesichtet, fallweise (zuletzt im August 2014 im Stadtgebiet von Dresden) auch in Sachsen. In Bayern wurde wegen der zunehmenden Einwanderung der Tiere aus Tschechien sogar ein „Elchplan“ entwickelt. Elch, wie auch Wolf, werden somit als wieder in Deutschland heimisch gewordene Wildtiere bezeichnet.“



      ALSO VORSICHT BEIM BLAUBEERPFLÜCKEN