Die Wahrheit: Faustrecht der Gepflogenheit
Die Einrichtung von „Brauchtumszonen“ im karnevalesken Rheinland weckt auch anderswo die Begehrlichkeiten von Traditionalisten.
„Achtung, Achtung! Sie betreten jetzt den närrischen Sektor!“, quäkt eine vom rheinischen Dialekt wie vom Alkohol vernarbte Stimme aus dem Lautsprecherturm, der sich über dem Stacheldrahtverhau erhebt. Bunte Luftschlangen haben sich im Natodraht verfangen, die schmale Zufahrt durch das mittelalterliche Stadttor ins linksrheinische Müschenich ist mit Konfetti übersät.
Mit Panzersperren und Erdwällen ist die unscheinbare Schlafstadt aus Waschbeton zwischen Erft und Urft von der Außenwelt abgeschnitten. Gestern ist die Gemeinde von der nordrhein-westfälischen Landesregierung testweise zur „gesicherten Brauchtumszone“ erklärt worden. In einem Pilotprojekt soll in Müschenich schon einmal durchexerziert werden, was den großen Karnevalshochburgen erst Ende Februar bevorsteht: der Straßenkarneval unter Pandemiebedingungen.
In eingezäunten Reservaten, den „Brauchtumszonen“, soll das hochinfektiöse Treiben in den Tagen von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch eingedämmt werden, damit weder Virus noch Frohsinn umgebremst durch das Gesundheitssystem marodieren. Überwacht werden die Brauchtumszonen von karnevalistisch geschultem Sicherheitspersonal, das sich aus den zahlreichen Vereinen und paramilitärischen Einheiten der rheinischen Jecken rekrutiert. Während das vergleichsweise rationale Düsseldorf nur entbehrliche Stadtteile wie die gastronomisch durchseuchte Altstadt zur Erstürmung durch die Omikron-Jecken freigab, verkündete die Kölner Stadtdirektorin Andrea Blome in typisch kölscher Obergärigkeit: „Janz Kölle wird zur Brauchtumszone!“
Wer den brauchtumskonform regulierten Sektor – in diesem Fall die gesamte Domstadt – zur Karnevalszeit betreten will, muss entweder vollständig geimpft oder vollständig besoffen sein, ferner an Mund und Nase maskiert, besser aber am ganzen Leib kostümiert sein. Hat der Karnevalist die Zone betreten, gilt er als infiziert und kann sich frühestens am Veilchendienstag mit einem negativen Promillebescheid aus dem Getümmel freitesten.
Feiernotstand in Müschenich
„Führen Sie irgendwelche Flüssigkeiten mit?“, fragt uns der diensthabende Stadtsoldat der Müschenicher Funken bei der Einlasskontrolle. Als wir eher nüchtern verneinen, reicht uns der eindrucksvoll bebommelte Kürassiergardist zwei Literflaschen Apfelkorn zur Einstimmung.
„Desinfizieren!“, lautet der Befehl, unterstützt von einer Trinkgeste. Wir setzen die Flaschen an den Mund. In den Sonderzonen ist den Anweisungen der Brauchtumsleiter unbedingt Folge zu leisten, aber Knallköpfe in Fantasieuniformen gelten im Rheinland ja ohnehin als Respektspersonen. Nachhaltig erfrischt und desinfiziert torkeln wir in die Stadt. Die Impfausweise wurden nicht überprüft, wohl aber unsere Textsicherheit bis in die letzten Strophen zeitgenössischer Karnevalsschlager. Auch wenn in Müschenich der Feiernotstand erst gestern ausgerufen wurde, hängen die Masken schon in den Kniekehlen, Körpersekrete werden höchst unbürokratisch ausgetauscht. Kein Zweifel, Prinz Karneval hat das Ruder übernommen.
Bundesweit verzweigte Zonen
So viel Autonomie weckt natürlich den Neid anderer Trachten- und Heimatvereine wie etwa der CSU. Bayernhäuptling Markus Söder etwa wollte in seiner bajuwarischen Brauchtumszone die einrichtungsbezogene Impfpflicht aussetzen, da jeder Zwang dem sensiblen weiß-blauen Wesen artfremd sei. Aber auch anderswo wollen Brauchtümelnde dem Faustrecht der hergebrachten Gepflogenheit den Vorzug vor der Vernunft oder langweiligen Gesetzestexten geben.
„Natürlich sind wir grundsätzlich für die Umsetzung der Klimaziele“, erklärt Jürgen Rüttscheid, Sprecher der neu gegründeten „Brauchtumszone Frankfurter Flughafen“. „Aber das sollte an Orten geschehen, die besser dafür qualifiziert sind. Uns ist daran gelegen, auf den wenigen Quadratkilometern unseres kleinen Familien-Airports das jahrhundertealte Brauchtum des Billigfliegens am Leben zu erhalten. Auch unsere Urenkel sollen schließlich für 9,99 Euro von Nürnberg nach Hamburg pesten dürfen.“
Die Befürworter einer bundesweit verzweigten „Brauchtumszone Autobahn“ argumentieren ähnlich. „Natürlich unterstützen wir ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern, nur eben nicht auf unserer Brauchtumszone Autobahn, sondern lieber vor Schulen und Kindergärten“, sagt Emily von Schwartz, Verbrennungsmotor-Lobbyistin des Traditionsvereins ADAC. In der „Brauchtumszone Kampen“ hingegen will eine Investorengemeinschaft innerhalb der Grenzen der Sylter Inselgemeinde umstrittene Praktiken der oberen Zehntausend wie die Leibeigenschaft des Personals, Steuerfreiheit und das Recht der ersten Nacht unter Bestandsschutz gestellt wissen.
Hochamt des Humanismus
„Für die Zone ist der Begriff Zone ja schon eingeführt“, frohlockt schließlich Dorfnazi Thorgrimm Waldschütz aus dem thüringischen Erba, das der heutige AfD-Lokalpolitiker schon seit etlichen Baseballschlägerjahren als „National Befreite Zone“ bei der Kreisumweltbehörde, dem Landeskatasteramt oder dem Reichssicherheitshauptamt anzumelden versucht. Doch immer wieder erfährt Waldschütz die geballte Ablehnung des Systems. „Jetzt hat sich auch noch die Unesco geweigert, den altehrwürdigen Brauch des Ausländerklatschens zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit zu erheben“, greint der gebeutelte Deutschtümler.
Im Vergleich zu diesen durchaus prominenten Formen hiesigen Brauchtums nimmt sich der rheinische Karneval, der in den vollgekotzten Straßen Müschenichs seinem Höhepunkt entgegenschunkelt, natürlich als humanistisches Hochamt aus.
Milde fällt unser Blick auf die grölenden Massen, auch das Tschingderassabum der elend unbegabten Karnevalskapellen sticht kaum noch ins Ohr. Dann allerdings will uns ein Gardemajor zum rheinischen Demütigungstanz „Stippeföttche“ zwingen, bei dem Wildfremde ihre Gesäße aneinanderreiben müssen. Unverzüglich begeben wir uns zum einzig sicheren Ort in der gesamten Zone, der Corona-Quarantänestation im Rotkreuz-Zelt. Dort reißen wir uns Pappnase und Maske vom Gesicht und atmen so viel Omikron wie möglich ein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“