Die Wahrheit: Delta mit Alfgand, dem Oberschlauen
Tief im dunklen Berlin herrscht Weltfrieden, denn hier fliegen die Löcher aus dem Käse einer derb widerständigen Veranstaltung.
2G greift um sich. Immer mehr Kultur- und Gastronomiebetriebe gewähren nur noch Geimpften und Genesenen Zugang. Der Schnelltest fällt weg, nun wird er auch noch kostenpflichtig. Radikale Impfgegner denken deshalb um und laden immer öfter zu Infektions-Happenings, sogenannten Spreadenings. Der Wahrheit ist es gelungen, einen Undercoverreporter auf ein solches Event einzuschleusen. Hier sein Bericht.
Freitag 19.12 Uhr. Plötzlich ist sie da, die Telegram-Nachricht: „Heute 21 Uhr. Fly Delta! MMR- Party bei Alfgand.“ Es folgen Anschrift und weitere Infos. „MMR“ ist der Name der Chatgruppe. Offiziell tauschen sich hier Eltern über Masern, Mumps und Röteln aus, in Wahrheit geht es um die Organisation streng geheimer Infektions-Partys.
Mit einem anonymen Facebook-Profil hatte ich mich in Impfgegnerblasen hineingepostet. Jedes Mal, wenn ich es etwas besonders Wirres gelesen hatte, kommentierte ich emsig und teilte fleißig weiter. Auf die Weise musste ich bald als ein in die Jahre gekommener Raver erscheinen, der fest daran glaubte, dass die CIA den Bauplan des Sars-CoV-2-Virus von außerirdischen Babyechsen erhalten hatte, um es in, von Bill Gates persönlich umprogrammierte, genmanipulierte Fledermäuse zu spritzen.
Fly Delta, fly
Mit anderen Worten: In der Gruppe war ich einer der Normalen. Nach wenigen Wochen hatte ich mich oft genug als ungeimpft und ungenesen geoutet, sodass ich in die Telegram-Gruppe eingeladen wurde. Jetzt also „Fly Delta“.
Eine normale Wohnungstür in einem Altbau in Berlin-Lichtenberg. Der Einlasser steht mir mit nacktem Oberkörper und lila Ballonhose barfüßig gegenüber und verlangt als erstes mein Impfbuch. Ich bin vorbereitet, gebe mich aber naiv: „Wieso? Ich dachte, das ist hier nur für Ungeimpfte?“
„Klar“, sagt er, „aber das müssen wir doch checken! Nicht, dass jemand Geimpftes hier ankommt. Die Covidimpfung ist ein Flüssigimpfstoff, der kann sich auch über Schweiß übertragen. Und wir wollen doch nicht, dass sich jemand hier beim Näherkommen versehentlich immunisiert!“ Denn Nahkontakt werde es geben, „Abstand“ sei hier ein grober Regelverstoß.
Ich zeige mein Impfbuch. Der Fälscher im Hinterzimmer eines Hinterzimmers eines Neuköllner Spätis hatte nur mit dem Kopf geschüttelt, als ich ihm mein Anliegen schilderte: „Sonst wollen alle immer Impfbuch mit Covid drin, aber das Verschwindenlassen von Impfungen – das kostet doppelt.“
Impfstempel in Frakturschrift
Das Ergebnis lässt sich sehen. Ein gelbgrau-vergilbtes Impfbuch aus den frühen Siebzigerjahren mit der Haptik verschlissener Skatkarten. Säuglingsimpfungen aus dem Dorfkrankhaus, dessen verblichener Stempel noch in Frakturlettern ist. Eine Pockenimpfung beim Kinderarzt von 1974, getippt auf einer Schreibmaschine, mir der mutmaßlich noch Ariernachweise ausgestellt wurden. Der letzte Eintrag aus dem Jahr 1981, einmal Tetanus. Der Türsteher schnalzt anerkennend. „Nicht mal Masern und Mumps, vorbildlich!“, lobt er mich und fragt nach einem amtlichen Lichtbildausweis, um abzugleichen, ob das antiquarische Impfbuch auch tatsächlich mir gehört.
Dann bin ich drin, und er schließt die Tür. „Willkommen. Ich bin Alfgand. Meine Freunde nennen mich auch Alfgand, den Schlauen.“ Er ist Veranstalter dieser Party, im richtigen Leben ist er Partyveranstalter, dann aber kommerziell. „Trance vor allem, Goa, der ganze psychodelische Shit.“ Da ist er Szenegröße. Alfgand ist kein Coronaleugner. Er bezweifelt lediglich die Gefährlichkeit des Erregers. Er selbst ist genesen. Covid sei völlig easy peasy, er hätte es gehabt; 14 Tage hätte er nur im Bett gelegen und sich nicht bewegen können, aber so what, er hätte schon mal verdorbene Magic Mushrooms gefuttert, nach denen er vier Monate weg war, das hätte er auch überlebt.
Täglich ein paar Schluck CDL
Wichtig sei eine ballaststoffreiche Ernährung, weder tierisches Eiweiß noch Gluten, keine Lebensmittel mit R und viele Pilzgerichte. Dazu täglich ein paar Schluck CDL, Chlordioxid, das helfe gegen alles. Während er mit mir spricht, riecht er aus dem Mund leicht nach Schwimmbad.
Alfgand ruft die Partycrew zusammen. Die sieht äußert schräg aus, denn der Dresscode für heute lautete „Masernparty für Dreijährige“. Es dominieren Einteiler, Strampelanzüge, kunterbunte Latzhosen, einer trägt sogar eine Windel mit Bärchenmuster.
„Peoplez, wo jetzt alle da sind, die sich angemeldet haben, kann es gleich losgehen. Leute, wir ficken das System! Wenn das Merkel-Scholz-Regime es nur noch mit Geimpften und Genesenen macht, dann müssen wir eben genesen! Die Genadelten dürfen nicht unter sich bleiben!“ Applaus brandet auf.
Alfgand zieht einen älteren Herrn nach vorn, dem in seinem rosa Jumpsuit sichtlich unwohl ist. Aber auch sonst ist ihm sichtlich unwohl: Er röchelt, hustet und schwitzt. „Das ist der Herr Beckmann. Herr Beckmann hat sich auf unsere Annonce gemeldet und wird uns heute alle infizieren. Nicht wahr, Rüdiger?“
Alfgand gibt Herrn Beckmann einen kumpelhaften Schubs. Herr Beckmann fällt um, wird jedoch von einer etwa 40-Jährigen in einem Einhorn-Schlafanzug aufgefangen.
Nebenwirkungen nur für Loser
Die Party geht los. In der geräumigen Viereinhalbzimmerwohnung ist der Dancefloor in der halben Kammer untergebracht. Überall hängen große Schilder mit Piktogrammen, die an die Verhaltensregeln erinnern: keine Maske, null Abstand, bloß nicht die Hände waschen und immer ins Gesicht niesen.
„Hier nimm das, das macht locker, du musst zwei Jahre Coviddiktatur vergessen“, Alfgand reicht mir ein Beutelchen mit getrockneten Mushrooms. „Haben die Nebenwirkungen?“, frage ich. „Who cares?“, fragt Alfgand: „Nebenwirkungen sind für Loser.“
Wir tanzen, „Fly Delta“ hebt ab. Das vierzigjährige Einhorn schiebt Herrn Beckmann die Zunge in den röchelnden Mund. Während des Knutschens läuft er blau an. Plötzlich finde ich das ungeheuer komisch und lache. Bald darauf verliert sich meine Erinnerung. Ich merke: Ich tanze. Ich schwitze. Wir sind mindestens 25 Leute in der fensterlosen acht Quadratmeter-Kammer, die zur Hälfte von Bassboxen eingenommen wird. Die Luft steht, wir atmen keine Aerosole mehr, wir baden gerade unsere Körper drin. Es regnet. Aus irgendeinem Grunde sind wir mittlerweile alle nackt. Es herrscht Weltfrieden.
Es dauert Stunden, bis ich wieder zu Sinnen komme und schließlich die Party verlasse. Mein Immunsystem wird viel zu tun haben in den nächsten Tagen. Draußen ist es taghell. Neben dem Hauseingang liegt Herr Beckmann in seinem rosa Strampelanzug und röchelt kurzatmig, jemand hat ihm eine Flasche CDL in die Hand gedrückt. Sie sind ja keine Unmenschen, diese Impfgegner.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken