Die Wahrheit: Das Memoji des Dorian Gray
Die kleine, tanzende Figur unter der SMS ist ein Abbild des eigenen Ichs. Wie schön, dass sie statt eben jenes Ichs altert, zunimmt und grau wird.
D as personalisierte Emoji, das ich gestern unter eine SMS setzte und das eine kleine, tanzende Figur mit meiner Haarfarbe und meiner Frisur, ein sogenanntes Memoji, zeigt, ist um die Hüften dicker geworden. Ich weiß genau, dass es letzte Woche noch schlanker war, da hatte ich es als erfreute Bestätigung für eine Verabredung im Einsatz.
Ich habe mir etwas irritiert daraufhin ein paar weitere Memojis angeguckt – das kleine Jenni-Männchen in einem Martiniglas, das kleine Jenni-Männchen mit einer Kaffeetasse in der Hand, das kleine Jenni-Männchen springt aus einer Geburtstagstorte –, und musste feststellen, dass einige davon nicht nur dicker, sondern auch älter aussehen. Sie tragen zerfurchte Falten im Gesicht, bei manchen deuten sich Schlupflider und Bingo Wings („Tantenwinker“) an, eins (das mit der Überschrift „Okey-Dokey!“) wird neuerdings grau.
Es kann sich also nur um das Dorian-Gray-Phänomen handeln: Meine Memojis altern für mich. Sie nehmen sogar für mich zu. Anscheinend habe ich bei der Handynutzung etwas Kleingedrucktes, Blutrotes übersehen, und dass die eleganten Unterschriften auf dem Nutzungsvertrag „Lord Henry Wotton“ und „Basil Hallward“ lauteten, war mir ebenfalls nicht verdächtig vorgekommen.
Eigentlich aber ist das eine feine Sache, und jetzt weiß ich, wieso ich selbst nach durchfeierten Nächten morgens immer so frisch, geradezu süß aussehe, während die Memojis verlebt und abschreckend wirken, als ob sie sich gleich übergeben müssten. Auch warum meine Figur noch original die gleiche ist wie mit 21 Jahren. Ich hatte mich schon ein wenig gewundert, denn sämtliche gleichaltrigen Wechseljahrfreundinnen jammern über ihr klimakterisches Bauchfett. Nur ich trage mit Begeisterung meine knappen Crop Tops, und den Sommer über war ich kaum aus dem Brazilian Bikini herauszubekommen.
Ein paar praktische Sorgen bereitet mir die Sache dennoch: Was ist, wenn der interessante, greise Singlemann, mit dem ich per SMS das erste Date einleitete, aufgrund meiner geriatrischen Memojis eine alte Frau erwartet – und dann komme ich junges Ding hereingehüpft? Zugegeben – das mit dem Hüpfen klappt momentan nicht gut, den chronischen Bandscheibenvorfall hat das Memoji mir anscheinend nicht abnehmen können.
Und, noch schlimmer: Was, wenn sich aufgrund des graumelierten, runzligen, ausladenden Memojis ein paar erwartungsfrohe Cougar-Freunde bei mir melden und dann enttäuscht auf meine babyglatte Pfirsichhaut und knackige Teeniefigur schielen?
Doch ich genieße die Situation, solange sie währt. Irgendwann läuft der Pakt mit den viktorianischen Dandys aus, und unter meinen Kurznachrichten springt dann wieder das junge, rothaarige Mädchen herum, dessen Gesicht aus glänzenden Augen besteht. Ich hoffe nur, dass ich dann nicht gerade in Gesellschaft bin. Der Verfall beim Dorian-Gray-Bildnis war bekanntlich am Ende rasant.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
Studie zu Zweitem Weltkrieg
„Die Deutschen sind nackt und sie schreien“