Die Wahrheit: Hallo, hier ist Mike
Der König der ehrbaren Zunft der Flaschensammler fährt in Berlin einen lindgrünen VW Jetta. Sein Kofferraum birgt ein ausgeklügeltes Ordnungssystem.
M ein privates Ordnungsprinzip gründet sich auf ein geregeltes Haufenmachen. Allzeit bewahre ich selbstverständlich den Haufenüberblick. Falls das mal nicht der Fall sein sollte, was von Fall zu Fall öfters der Fall ist, dann dauert es nicht lange und es klingelt in unserem Mietshaus an der Klingel. Ich kann vom Klang und Bedienen der Klingel erkennen, dass er es ist.
Es gibt unter der Sonne und unter den Monden dieser Welt keinen, der so ordentlich und so gellend klingelt. Er ist es, er, Mike, der Flaschensammler. Der von mir gekrönte König der mannigfaltigen Pfandflaschen, der güldenen Kronkorken und der silbrigen Verschlusskappen. „Hallo, Frau Wolff, hier ist Mike der Flaschensammler! Lassen Sie mich bitte rein?!“
Ich drücke behände den Einlassknopf der Gegensprechanlage. Mike bahnt sich hörbar seinen Weg Richtung erster Hinterhof, dort, wo sein Reich beginnt. Dort, wo ihn Menschen dazu nötigen, abgeranztes Pfandsammelgut aus der Mülltonne oder den Altglastonnen zu bergen, weil jene Menschen schlicht zu gedankenlos dumm sind, die Pfandflaschen sieben Meter weiter draußen auf den Bürgersteig an den Trafokasten zu stellen, auf dass Mike der Flaschensammler und andere ehrbare Menschen jener Zunft sich wenigstens nicht die Hände und die Würde demolieren, wenn sie nach dem Winzbargeld greifen.
Mike, er trägt stets akkuraten Seitenscheitel und die schwarz gefärbten ergrauten Haare mit einem Hauch Brillantine, ist das personifizierte Gegenteil meines privaten Ordnungsprinzips des geregelten Haufenmachens. Mike ist derart sortiert, was seine Habseligkeiten in der Außenwelt angeht, dass es einen schwindelt. Zur Ausübung seiner Flaschensammlertätigkeit geht Mike, dem ich öfters begegne, nicht durch den Kiez, er fährt samt eines Robert-Lembke-Brillengestells in goldfarbener Ausführung einen an die grellen achtziger Jahre erinnernden lindgrünen VW Jetta durch die gentrifizierte Gegend.
Dieser VW Jetta, erste Generation, hat einen ausladend tiefen Kofferraum. In diesen Kofferraum passt eine Armada an Pfandflaschen. Woher ich das weiß? Letztens traf ich mal wieder zufällig Mike: „Hallo, Frau Wolff.“ Mike war am Sortieren seines zusammengesammelten Pfandguts. Er sah traumwandlerisch, ja versunken in seinem Tun aus. „Frau Wolff, ich muss Ihnen mal was zeigen …“ Mike öffnete den Kofferraum, mein Blick fiel in das System Mike. Weil ich nicht genuin ordentlich bin, fehlen mir an dieser Stelle ein paar ordentliche Wörter für das ordnungsgemäße Beschreiben von originären Ordnungssystemen.
„Frau Wolff“, Mike nestelte an seiner Brille, „schauen Sie, ganz hinten platziere ich die Flaschen aus den Biomärkten, die Reihen davor schließe ich mit Netto-, Penny-, Lidl-, Aldi-Flaschen in der Reihenfolge ihrer Nennung“. Jegliches Pfandgut gerate auf diese Weise schlussendlich in seinen „Verursachermarkt“ zurück. „Alles paletti, Frau Wolff, nicht wahr?“ Ich nickte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP