Die Wahrheit: Die Lunte brennt!
Bundestagswahl 2021: 44 faszinierende Mini-Parteien dürfen am Urnengang teilnehmen, 43 hat der Bundeswahlleiter nicht zugelassen.
Tag für Tag rücken jetzt die Parteien den Bürgerinnen und Bürgern näher auf die Pelle. Dann, am 26. September, ist es so weit: Ein neuer, frischer Bundestag wird gewählt!
Besiedeln das Hohe Haus derzeit ganze sieben Parteien, die manche an einer Hand abzählen können, so wollen diesmal ungleich mehr hinein: Zuerst einmal die Freien Wähler in Bayern und Brandenburg, die bereits in den dortigen Landtagen ihre fünf Jahre absitzen, sowie der Südschleswigsche Wählerverband für die eingeborenen Dänen Deutschlands. 87 weitere Parteien und Parteichen saßen in den Startlöchern, als der Bundeswahlleiter am 8. und 9. Juli die Teilnehmerliste durchpflügte. 44 Starter ließ er am Leben.
Sie dürfen neben den glorreichen Sieben und den drei Ergänzungsspielern mitmachen, aber 43 ebenso Begabte nicht. Unter Letzteren die Allianz für Vielfalt & Mitbestimmung, die der Einfalt und Bevormundung den Garaus zu machen versprach; hingegen darf die ähnlich getaktete Partei des Fortschritts, die dem Rückschritt den Kampf angesagt hat, auf dem Wahlzettel Platz nehmen.
Ebenso die Menschliche Welt, die aus dem kleinen spirituellen Zentrum Ananda Ashram in Wolfsegg besteht und von seiner Erhabenheit Yoga-Mönch Gaga, korrigiere: Dada Madhuvidyanandabis an die Wand bevölkert wird; er könnte nach dem Wahlsieg mit der Europäischen Partei Liebe zusammengehen, ohne dass ein Blatt Papier dazwischenfunkt. Beider Anhängern und dringend Anhängerinnen empfiehlt sich als Ort einer Koalition die berühmte Gartenstadt Magdeburg, wo die Gartenpartei zur Gartenparty einlädt und aufspielt (in Magdeburg).
Nicht für fernöstlich gebackenes Liebes-Yoga, sondern für den Naturschutz der eingeborenen Glaubenswelt wollte sich die Deutsche Protestantische Liga mit Gebet, Gesang und Frohlocken stark machen, scheiterte aber am weltlich verblendeten Bundeswahlleiter ebenso wie die von Rom und dem Antichristen gesteuerte katholische Zentrumspartei, die seit ungefähr 2.000 Jahren für den einzig wahren und garantiert echten Gott ficht. Auch der Jesusparty – Partei des Evangeliums bleiben anstelle der weltlichen Pforten des Bundestages nur die himmlischen Tropfen der inneren Einkehr; aber das Bündnis C – Christen für Deutschland, das weiß, wo das irdische Jammertal ist, darf auf ein besseres Diesseits hoffen.
Kleine aus Holz
Bekanntlich bekämpfen die Kleinen am liebsten andere Kleine, die aus gleichem Holz geknetet sind. Die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands, die Sozialistische Gleichheitspartei, Vierte Internationale und die gute alte knorrige DKP sind alle drei für eine Neuansetzung des Jahres 1989, damit diesmal der Sozialismus den Kapitalismus zu null besiegt. Nur: welcher Sozialismus? Zur Wahl stehen seit dem 9. Juli nur noch die Marke Lenin oder das Label Trotzki, denn die DKP mit ihrem Spitzenprodukt Honecker wurde vom Bundeswahlleiter, einem zentnerschweren Wessi, von der Wahlliste gerupft.
MLPD und Gleichheitspartei sind verfeindete Zwillinge und dürfen zur Erquickung des hochinteressierten Publikums einander die Beine ausreißen. Ähnliches gilt für die euro- und europafeindlich geölte Deutsche Mitte und Volt, das für einen föderal gehäkelten europäischen Bundesstaat kämpft; und Die Pinken und Die Grauen beißen sich augenscheinlich sowieso.
Sie alle dürften sich am Wahlabend am unteren Rand der Tabelle wiederfinden, wie die V-Partei – Partei für Veränderung, Vegetarier, Veganer und Vogel-V oder die Partei Wir2020, die nach Ich2017, Du2018, ErSieEs2019 antritt und schon jetzt übersehen hat, dass, liebe Wählerinnen und Wähler, ihr 2021 sie über den Haufen fahren werdet.
Nein zur Achtsamkeit
Apropos, die Tierschutzpartei tritt auch diesmal im Straßenwahlkampf an. Neu auf dem Markt ist dieBasis, die mutig die Werte „Freiheit“ (statt der beliebten Unfreiheit) und „Achtsamkeit“ (statt der hochgeschätzten Unachtsamkeit) verficht und für „Schwarmintelligenz“ eintritt, aber nur wenige Tausend Anhänger unter den 80 Millionen hat. Noch weniger hat bloß das Team Todenhöfer des ehemaligen CDU-Politikers Jürgen Todenhöfer, der sich mit „Team Todenhöfer“ für Jürgen Todenhöfer und hier insbesondere für die Werte von Jürgen Todenhöfer einsetzt – und schon mal eine Stimme bei der Wahl am 26. 9. sicher hat.
Die anderen, die erwachsenen, im Bundestag bereits eingewurzelten Parteien sind hinlänglich bekannt. Die Linke will in einer Koalition mit Grünen und SPD den Kommunismus errichten und alle Klassenfeinde rasieren; die AfD (Deutschland den Deutschen, das Mittelmeer für den Rest) und die FDP (Marktwirtschaft ist Demokratie, alles andere ist linke Demagogie) behaupten ihre Positionen, bis der Arzt kommt; und die Grünen ( ) wollen um der Regierung willen nur eines, die Regierung. In der werden sie entweder zu Füßen der CDU/CSU oder zu Häupten der SPD sitzen; diese brauchen ebenfalls keine Programme oder tun nur so.
Sie zumindest wissen: Hauptsache, regieren – alles andere ist für die Tonne!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind