Die Wahrheit: Holidays in Bad Mut
Der neueste Trend in einem Lockdown ohne echten Urlaub: Reisen ohne wegzufahren. Kein Grund, im Trüben zu fischen!
In Zeiten, in denen jeder Flug in die Ferne zum One-Way-Trip in den Transitbereich eines internationalen Flughafens werden kann, empfiehlt die Tübinger Gesellschaft für Immobilität risikoloses Reisen ohne wegzufahren.
Abenteuer im Klamottengebiet
Sie kennen die verruchteste Bar in Harlem, Sie waren als erster Europäer in einem Geheimgang der Cheops-Pyramide (und zwar drei ganze Tage, bis jemand das Licht angemacht hat) und Sie wurden gleich zweimal in der gefährlichsten Gasse Acapulcos ausgeraubt – wissen aber nicht mehr, was in der kleinen roten Kiste im linken oberen Fach ihres Kleiderschranks steckt?
Dann wird es höchste Zeit für einen Abstecher ins Klamottengebiet. Ideal für junge Paare, um sich rund um die Uhr sehr nah zu sein. Besser lernt Ihr Partner Sie niemals kennen als im Muff Ihrer alten Mäntel. Und werden Ihre Rücken steif vom stundenlangen Hocken in unbequemer Haltung, bieten sich Pilatesübungen in der Sockenschublade an.
Packender als jedes Geocaching auf Hallig Hooge, verstörender als die Opferspalte im Kosackenberg, unheimlicher als jeder Lost Place östlich von Wernigerode. Wühlen Sie sich durch die Schlüpfer des Schreckens! Hängen Sie fest in Karohemden aus den Neunzigern! Und entspannen Sie in Bettbezügen Ihrer Kindheit!
Schnorcheln in lauen Untiefen
Sie haben’s nicht so mit Menschen und verbringen Ihre Ferien lieber im Garten eines Krakens als auf dem Trockenen? Sie lieben es, mit dem Geigenrochen zu fiedeln, und sind im Wasser gewandter als jeder Zackenbarsch? Schade also, dass die die einzigen Fische, derer sie derzeit ansichtig werden, tiefgekühlt und paniert sind.
Kein Grund jedoch, im Trüben zu fischen! Ihr diesjähriger Tauchurlaub findet im eigenen Badezimmer statt. Schnorcheln Sie sich aus der Abgestandenheit des Lockdowns hinein in eine Welt aus Verdrängungen und Ängsten. Nutzen Sie das Weiß Ihrer Badewanne als Projektionsfläche für ein Drift Diving direkt in Ihr sprudelndes Unterbewusstsein. Erleben Sie einen Ozean aus frühpubertären Frustrationen und spätkindlichen Erniedrigungen! Beim Freischwimmen aus vorgelagerten Riffs und gefährlichen Untiefen werden Sie eine abwechslungsreiche Tiefentopografie entdecken, die Ihnen die Rückkehr in die Coronatristesse deutlich erleichtern dürfte.
Survivaltrip im Raufasercanyon
Sie haben unter den Sternen des Südens eine liebestrunkene Nacht mit einem verbeulten Kanister voll Ouzo verbracht, in einer kirgisischen Jurte von Yak-Rodeo mit Jan Hofer geträumt und sind frühmorgens am Strand bei Greifwald vom Grenzschutz inhaftiert worden?
Drehen Sie doch einfach den Haupthahn ab, nehmen Sie den Router vom Netz und schlagen Sie Ihre Zelte direkt in den Weiten Ihrer eigenen vier Wände auf! Bereits das Befestigen der Heringe im Parkett wird Sie an den knochenharten Permafrostboden Sibiriens erinnern. Und so wie Sie sich damals zwei Wochen von seltenen Moosen und Flechten ernährt haben, kratzen Sie nun Speisereste und Staubflusen aus den Dielenritzen, um Ihren Lieben daraus ein schmackhaftes Süppchen über dem Campingkocher zuzubereiten.
Beim Lagerfeuer unter der Zimmerpalme festigen Sie das familiäre Gleichgewicht dank der jedem Camper nützlichen Multifaserschnur. Schlafen Sie selig ein mit dem fernen Geheul des Rauchmelders und dem Gewimmer Ihrer Kinder im Ohr.
Noch grässlicher Reisen
Nach einem zweiwöchigen Aufenthalt im Robinsonclub Fleesensee mit Vollpension und Aquagymnastik im Fußdesinfektionsbecken haben Sie einst Ihre Leidenschaft für Dark Tourism entdeckt? Kein Schauplatz unermesslichen Grauens ist vor Ihren Augen und Füßen sicher? Ihre Instagram-Story ist voll von Selfis aus Tschernobyl, Kambodscha und Bad Bramstedt? Auch wenn Sie sich derzeit wohl inmitten der größten Katastrophe Ihres Lebens befinden, sind Sie es leid, seit 365 Tagen stets auf der eigenen Bettstaat aufzuwachen. Zeit für eine Kehrtwende! Von nun an schlafen Sie darunter. Entdecken Sie wieder den Abraum Ihres Lebens: den kaputten CD-Player, die Kiste mit Liebesbriefen Ihrer Ex-Partner oder -Partnerinnen und die Mumie Ihrer vor Jahren vermisst gemeldeten Katze Kolumbus!
Machen Sie sich gefasst auf eine Wiederbegegnung mit den Monstern Ihrer Kindheit. Die sind gar nicht verschwunden mit den Jahren. Sie haben nur dort gewartet, wo Sie sie immer vermutet hatten.
Der vorsichtige Talabstieg
Nie und nirgends schlafen Sie besser als in der Eiger-Nordwand hängend? Richtig entspannen können Sie erst, wenn zwischen Ihnen und dem Boden der Tatsachen 1.000 Höhenmeter liegen, doch in Ihrer Dachgeschossetage ist die Luft seit Monaten dicker als in der Höhle von Lascaux?
Höchste Zeit also, sich mal wieder vor die Tür zu begeben. Von Ihrem letzten Trip in die Hohe Tatra wissen Sie noch: Der Abstieg ist manchmal schwieriger als der Weg hinauf, vor allem, wenn kurz hinter der Baumgrenze, also im zweiten Stock, das Licht erlischt. Sitzt Ihr Sicherungsseil fest? Dann können Sie sich getrost über die Brüstung stürzen. Ob Sie nun aufgrund wegbrechender Aufträge in der Luft oder in Ihrem Treppenhaus hängen, macht keinen Unterschied. Aber seien Sie gefasst auf unheimliche Begegnungen! Der Waldschrat mit Bart bis zum Bauch ist die graue Maus aus dem Wirtschaftsministerium, der erst gestern im Homeoffice Ihren Antrag auf Neustarthilfe abschlägig beschieden hat.
Im Nachtzug zurück ins Leben
Sie glauben, Sie hätten Bahnfahren verlernt, wo Sie früher doch wochenlang mit nur einer Unterhose und drei Freundinnen, die Ihnen im Lauf der Reise abhanden gekommen und – von der einen Unterhose mal abgesehen – nie wieder aufgetaucht sind, über die Schienen dieses Kontinent rattern konnten. Früher hatten Sie im Kopf, wie man durch bloß 87 Umstiege in 23 Tagen von Málaga bis nach Tromsø gelangt, heute erwachen Sie schweißgebadet aus Träumen, in denen Ihnen auf der Pariser Métrostation Stalingrad beim vergeblichen Suchen nach einem Entwerter der linke Fuß abfriert.
Ihr Weg zurück aufs Gleis des Lebens sollte in behutsamen Etappen stattfinden. Genießen Sie etwa in der SWR-Mediathek „Die schönsten Bahnstrecken Europas“. Reißen Sie all Ihre Fenster auf, um Fahrtwind zu simulieren. Falls in Ihrer Wohnung kein Durchzug möglich ist, bestellen Sie sich einen leistungsstarken Ventilator. Aber zeigen Sie dem Paketboten nur dann Ihr Interrailticket, wenn er es auch verlangt. Er könnte Sie sonst für jemanden halten, der schon lange nicht mehr unterwegs gewesen ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül