Die Wahrheit: Warum ich kein Mediävist wurde
Mittelalterforschung einmal anders: Keine Minnelyrik. Keine merowingischen Monetarmünzen. Heute wird geknuddelt!
M it Anfang zwanzig hatte ich eine kurze Phase der Schwäche. Ich dachte, wenn ich als Kind aus dem „bildungsfernen Milieu“ schon Abi machte, dann müsste ich auch etwas „Richtiges“, vielleicht sogar etwas Spektakuläres studieren: Medizin, Astrophysik, Neurowissenschaften …
Dann aber hatte ich eines nachts diesen Albtraum, in dem ich tatsächlich erst Medizin studierte, dann noch einen Master in Gesundheitsökonomie und Epidemiologie dranhängte und schließlich Professor an verschiedenen Unis, unter anderem in Harvard, wurde. Außerdem ließ ich mich in den Bundestag wählen und avancierte zum Gesundheitsexperten meiner Partei. Trotzdem musste ich mir in diesem Traum von doofen Anthroposophen, dumpfen Rassisten und weichbirnigen Popsängerinnen vorwerfen lassen, ich hätte keine Ahnung von nix oder wolle den Faschismus einführen. Nachdem ich aufgewacht war, hatte ich jede Lust an einer naturwissenschaftlichen Karriere verloren.
Doch bevor ich mich entschloss, stattdessen ein flatterhaftes Künstlerleben zu führen, versuchte ich es noch mit einem halbseriösen Kompromiss: Ich schrieb mich für Geschichtswissenschaften ein. Weil ich gern Geschichtsdokus im Fernsehen schaute. Außerdem hatte ich als Kind begeistert ein „Was ist was“-Buch über die Kelten und eins über das alte Ägypten, später den schrulligen Ritterroman „Der König auf Camelot“ von T. H. White gelesen. Logischerweise konnte mich das dröge Studium dann nur noch enttäuschen.
Wobei ein junger, angenehm offen homosexueller Professor – eine 1986 in einer solchen Position eher seltene Erscheinung – sich Mühe gab, das Studium doch irgendwie unterhaltsam wirken zu lassen. Er betrat den Seminarraum gern mal mit einem halb geleerten Sektglas in der Hand und bastelte sich stets in den ersten Minuten der Sitzung einen Aschenbecher aus Papier, um dann den Rest der Stunde charmant plaudernd Kette zu rauchen. Heute undenkbar, damals machte das einen sehr entspannten Eindruck. Zumal die Studierenden auch rauchen durften. Sofern sie sich ebenfalls einen Origami-Aschenbecher falteten.
Aber wie gesagt: Ich gab nach kurzer Zeit auf. Was mir vielleicht am heutigen Tag zum Vorteil gereicht. Heute wird nämlich bereits zum achten Mal der jährliche „International Hug a Medievalist Day“ gefeiert, der „Umarme-einen-Mediävisten-Tag“. Und ich lasse mich doch so ungern von Fremden anfassen.
Man kann diesen Tag – gerade in Pandemiezeiten – jedoch auch im übertragenen Sinne begehen. Alternativ zum übergriffigen Kuscheln mit einem herumstehenden Mittelalterforscher oder einer Mittelalterforscherin, kann man sich heute auch mit einem der prickelnden Forschungsgegenstände aus der Mediävistik beschäftigen. Zum Beispiel mit „merowingischen Monetarmünzen“. Oder als niederschwelliges Angebot: Man darf auch „Ritter der Kokosnuss“ oder „Vikings“ schauen. Mediävisten: Fühlt euch gedrückt!
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