Die Wahrheit: Weihnachtswürfeln

Am zweiten Feiertag in einer Bahnhofsspelunke zu versacken, ist nicht außergewöhnlich. Aber das Reglement des Gesellschaftsspiels dort schon.

Einmal musste mich ein Freund am frühen Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertags aus einer rustikal-urigen Bahnhofsspelunke im Nirgendwo abholen. Dort war ich einige Stunden festgesessen, weil mein Regionalzug aufgegeben hatte, doch immerhin war es möglich gewesen, mir die Zeit mit ein paar Männern zu vertreiben, die die Sechspersonenversion von „Mensch ärgere dich nicht“ spielten. Man hatte hier allerdings ganz eigene Regeln.

Jeder Spieler musste zunächst einen 5-Euro-Schein in die Mitte legen. Immer, wenn ein Spieler eine Figur ins Trockene gebracht hatte, durfte er sich alle Scheine nehmen. Die anderen mussten dann jeweils einen weiteren Schein nachlegen.

Das Kuriose aber war die Würfelverteilung: Es gab zwei Spieler am Tisch, die jeweils mit einem handelsüblichen Würfel agierten, der also die Zahlen eins bis sechs möglich machte. Drei weitere Spieler, darunter auch ich, bekamen lediglich Würfel, die zwar auch sechs Seiten hatten, aber nur mit den Zahlen eins bis vier versehen waren. Und eine ganz arme Sau erhielt einen, der lediglich Einsen und Zweien auf seinen Flächen hatte. Die übliche Regel, der zufolge die Figuren erst starten durften, sobald der Spieler eine Sechs würfelt, befolgte man indes auch hier.

Zu Beginn dachte ich, etwas nicht verstanden zu haben, und spielte erst einmal mit, galt es doch, sich hier in der Fremde nicht gleich unbeliebt zu machen. Nachdem aber einer der beiden Herren mit den Sechserwürfeln, wie erwartet, seine erste Figur nach Hause gebracht und die Scheine an sich genommen hatte, schlug ich vor, dass doch alle mit einem der normalen Würfel würfeln könnten.

„Wir spielen hier schon immer so“, sagte zu meiner Überraschung ein Gegenspieler, der wie ich bestenfalls eine Vier werfen konnte. Als ich anbot, die Würfel mit einem Filzstift so zu verändern, dass jeder die gleichen Chancen hatte, verwies man mich darauf, dass das Zinken von Würfeln laut Regelwerk ausdrücklich verboten sei.

Unterdessen wurde der andere Kollege mit dem Viererwürfel zusehends wütender: Mit jedem weiteren Versuch war er immer stärker davon überzeugt, die Schuld an seinem Versagen habe der Nachbar mit dem Zweierwürfel. Der Beschuldigte selbst sagte nichts, vielleicht verstand er uns auch nicht – er schien froh, überhaupt mit am Tisch sitzen zu dürfen.

Als ich meine Mitspieler nach langer Diskussion zu einer Abstimmung über eine Regeländerung bewegen konnte, schoben die beiden Sechserwürfler den beiden Viererwürflern unterm Tisch 20 Euro zu, die sie in den anschließenden Runden natürlich wieder verlieren würden. Die Abstimmung endete dennoch vier zu eins gegen mich. Der Mann mit dem Zweierwürfel hatte sich enthalten.

„Das hast du im Suff geträumt! So blöd ist doch kein Mensch!“, gluckste mein Freund im Auto, nachdem ich davon berichtet hatte, und klatschte vor Amüsement in die Hände. „Wieso“, fragte ich, „wählst du nicht mehr CDU?“

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Cornelius W. M. Oettle kam in der kältesten Novembernacht des Jahres 1991 in Stuttgart zur Welt und weiß nicht, warum. Zur Überbrückung seiner Lebenszeit schreibt er als freier Autor für alle, die sich ihn leisten können. Seine Tweets aber sind und bleiben gratis.

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kari

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