Die Wahrheit: Schrill, heiser und elegant

Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (110): Die Seeschwalbe wird gern von Forschern besendert, um ihr folgen zu können.

Eine Seeschwalbe im Himmel.

Sterna paradiseae im Anflug Foto: imageBROKER/Marcus Siebert

Bekanntlich fliegt die Küstenseeschwalbe zwischen Arktis und Antarktis hin und her und legt damit von allen Zugvögeln die größte Strecke zurück: 40.000 Kilometer alljährlich. Unterwegs leben sie von Heringen; ihre Jungen, die sie im Sommer im Norden zur Welt bringen, ernähren sie mit jungen Heringen.

Wenn wir nun einen Blick nach vorne, ins Jahr 2030 wagen, dann ist die Überfischung der Meere so weit gediehen, dass es nur noch eine Seeschwalben-Brutkolonie gibt – auf Grönland. Dort beginnt der Roman der irisch-australischen Autorin Charlotte McConaghy, „Zugvögel“. Ihre Icherzählerin ist in Seeschwalben vernarrt. In Grönland gelingt es ihr, drei Jungvögel zu besendern. Sie will die drei verfolgen, wie sie sich in die Antarktis aufmachen. Dazu muss sie sich ein Schiff suchen, das den mit Sendern ausgerüsteten Seeschwalben folgt.

Sie kann den Kapitän eines Heringfangschiffs überreden, der immer weniger fängt und deswegen geneigt ist, der Icherzählerin zu glauben, dass die Seeschwalben, die sich unterwegs von Heringsschwärmen ernähren, ihn zu guten Fängen führen werden. Und die Richtung zeigen ihnen die drei besenderten Vögel in Form von sich bewegenden kleinen roten Punkten auf Google Maps an. Eine Seeschwalbengruppe nimmt die Route entlang der Westküste Amerikas, eine andere Gruppe fliegt über den Atlantik.

Das Schiff mit Namen „Rabe“ folgt zunächst der einen besenderten Seeschwalbe, die entlang der Westküste fliegt, aber in einem Sturm geht diese mit ihrem Schwarm unter. Sie entschließen sich, umzukehren und dann irgendwo im Atlantik auf den Schwarm mit den anderen besenderten Seeschwalben zu stoßen.

In der Amundsensee

Unterwegs erfahren sie, dass weltweit ein generelles Fangverbot erlassen wurde und kein Fischerboot mehr seinen Hafen verlassen darf. Sie sind von da an illegal unterwegs, während sie sich dem Rand der Antarktis nähern. In der Amundsensee gibt ihr Schiff den Geist auf, sie gehen an Land und übers Eis, klettern eine Steigung hoch – und da sind sie, die letzten Seeschwalben: „Vor mir ist das Eis bedeckt von vielen Hundert Küstenseeschwalben. Schrill und heiser ertönt ihr Kreischen, sie tanzen mit ihren Gefährten durch die Luft, jubeln vor Freude“, stürzen sich ins Meer, wo es von Fischen wimmelt.

Der Roman greift wie gesagt vor; noch sieht man überall an den nordischen Küsten Seeschwalben. Im friesischen Nationalpark Wattenmeer machen sie nicht nur Rast auf ihren langen Flügen, sie brüten auch dort – zum Beispiel an der Eidermündung, einen Meter von den Touristen entfernt. Nur eine dünne Kette trennt die Menschen von den dicht nebeneinander gebauten Nestern der Küsten-, Zwerg- und Flussseeschwalben. Die Nationalparkbesucher machen die Vögel zwar nervös, dafür halten sie ihnen aber die Füchse und andere Eiräuber vom Leib. Während die Weibchen brüten, sind die Männchen ununterbrochen damit beschäftigt, sie und die Jungen mit kleinen Heringen zu füttern.

Wir gingen einige Stufen zum Stauwerk hoch und auf eine kleine Plattform, hinter der Sperrkette erstreckte sich ein Betondeich, auf dem sie brüteten. Gelegentlich beschimpfte uns laut ein beunruhigtes Männchen, das über unsere Köpfe flog und uns warnte, ja nicht über die Kette zu steigen und den Nestern zu nahe zu kommen. Aber dann gesellte sich ein Mitarbeiter der Nationalparkverwaltung zu uns, versteckte sich quasi in der Menge. Aber die Seeschwalben erkannten ihn trotzdem und griffen ihn ununterbrochen an.

Besenderungsscheiß

Er war eigentlich ihr Beschützer, aber in den Augen der Seeschwalben war er ihr Feind: Er hatte wiederholt ihre Jungen beringt, und das war für die Eltern ein eindeutiger Angriff, den sie nicht hinnahmen. Zwar waren in diesem Jahr 2012 die Jungen noch nicht geschlüpft, aber die Seeschwalben warnten den Nationalparkmitarbeiter, nicht wieder mit dem Besenderungsscheiß anzufangen, indem sie ihn schon vor dem Schlüpfen ihrer Jungen quasi vorbeugend attackierten.

Dem Leiter der Nationalparkverwaltung, Detlef Hansen, war das aber egal. Für ihn zählten Zahlen – ihr Bruterfolg: „Insgesamt haben rund 3.500 Paare Küstenseeschwalben und 3.000 Paare Flussseeschwalben in diesem Jahr im Nationalpark gebrütet.“

Sie begannen spät mit dem Nestbau, aber als die Jungen schlüpften, war ausreichend Nahrung vorhanden: „Massen von Jungfischen“. Hansen sieht darin den Beweis, dass der Fortbestand der Seeschwalben vor allem von geeigneter Nahrung abhängt: „Die meisten Küken sind in den ersten Lebenstagen verhungert, weil Nahrung in schnabelgerechter Größe fehlte.“

Elegante Flieger

Der Naturschützer nimmt an, dass der Rückgang an Jungfischen während der Brutzeit mit dem Klimawandel zusammenhängt, das heißt „mit den wärmeren Wassertemperaturen vor allem im Winter. Selbst Austernfischer und Eiderenten konnten mehr Junge aufziehen, obwohl sie keine Fische fressen: Ihre Jungen wurden weniger von Möwen gejagt, weil auch denen genug Jungfische als Nahrung zur Verfügung standen.“ Junge Heringe nehmen also eine „Schlüsselposition“ in der Wattfauna ein: „Ihr Vorkommen oder Fehlen entscheidet über das Schicksal vieler anderer Arten.“

Im Jahr 2020 scheinen die zunehmenden Restriktionen für die Heringsfischer gegriffen zu haben, denn die Nationalparkverwaltung meldete: „Die Flussseeschwalben kommen. Im Wattenmeer werden im Jahreslauf circa 35.000 dieser eleganten Flieger gezählt, etwa ein Drittel davon brütet hier in Kolonien auf den Inseln und an der Festlandküste. Bis Ende September sind sie im Wattenmeer zu beobachten, dann brechen die letzten in ihre Winterquartiere auf.“

Die Seeschwalbenkolonie hat sich also vergrößert, und außerdem überwintern viele laut Nationalparkverwaltung in Westafrika und in Australien, also nicht nur in der Antarktis, wo der „Sommer“ anfängt, wenn er hier vorbei ist. Die Seeschwalben fliegen ihr ganzes Leben lang dem Sommer hinterher.

Helgoländer Institut für Vogelforschung

Die Nationalparkverwaltung folgt ihnen nicht mit Schiffen zu ihren Winterquartieren, sondern lässt das Helgoländer Institut für Vogelforschung die Seeschwalben gemütlich im Büro vom Computer aus verfolgen: „Seit 1992 werden alle dort flügge gewordenen Küken und einige Altvögel mit einem Mikro­chip markiert, der von den installierten Antennen und Wiegeplattformen erkannt wird. Computergestützt und ergänzt durch Beobachtungen der Mitarbeiter wird für jedes Individuum zum Beispiel ermittelt, ob und wann es in die Kolonie zurückkehrt, wie sich sein Gewicht entwickelt und, langfristig, wie viele Nachfahren es schon gezeugt hat.“

Anders die Berliner Vogelforscherin Barbara Geiger: Sie folgt den (unbesenderten und unberingten) Schwalben auf ihrem Flug nach – und durch Afrika quasi zu Fuß. Dabei bekam sie heraus, „dass die Rauschwalben sich auf dem Weg durch die Sahara in alten Treibstofffässern, die als Wegweiser in der Wüste stehen, vor Sandstürmen in Sicherheit bringen und dass sie sich im Flug von ‚Luftplankton‘ [im Wind treibenden Insekten] ernähren“.

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