Die Wahrheit: Fruchtbare Eckenwühler

Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (109): Tanz- und Rennmäuse sind possierlich und haben viele Fans und noch mehr Eigenheiten.

Mongolische Wüstenrennmäuse.

Süßes Knabbern: Mongolische Wüstenrennmäuse Foto: Baldur123/commons.wikimedia.org

Der Tierpathologe Achim Gruber berichtet in „Das Kuscheltierdrama“ (2019), dass er als Kind Tanzmäuse besaß: Die waren sehr niedlich, drehten sich den ganzen Tag im Kreis – weil sie einen angezüchteten Innenohrdefekt hatten. Daraus resultierte ein Gleichgewichtsproblem: Sie konnten nicht geradeaus laufen. Ein eindeutiger Fall von „Qualzucht“. Heute gibt es sie nicht mehr im Handel: „Zumindest bei den Tanzmäusen hat sich was bewegt“, schreibt er. Bei Ebay werden jedoch noch immer jede Menge Tanzkostüme für diese Mäuse angeboten.

Die Rennmäuse kann man in jeder Tierhandlung kaufen, sie rennen aber nicht ständig. Der Sohn meiner Freundin war in einer Kita gewesen, in denen die Kindergruppen „Feldmäuse“, „Wühlmäuse“, „Spitzmäuse“ und „Rennmäuse“ hießen. Später fragte er in einer Tierhandlung den Verkäufer: „Haben Sie Mäuse?“ Dieser fragte zurück: „Zum Spielen oder zum Verfüttern?“ Und fügte hinzu: „Die zum Verfüttern sind billiger.“ Er meinte weiße Mäuse.

Der Sohn meiner Freundin wollte aber zwei Rennmäuse, sie kosteten 16 Euro, dazu kaufte er noch für 10 Euro das Buch „Mongolische Rennmäuse: Haltung, Pflege, Beschäftigung“. Einen Käfig hatte er bereits, von einem Cousin. Seine Mutter googelte sogleich, was die Tiere für eine „artgerechte Einrichtung“ bräuchten.

Auf der Internetseite einer Tierschutzorganisation hieß es: „In der Natur leben mongolische Rennmäuse in Steppen und Halbwüsten, wo sie ihren enormen Bewegungsdrang ausleben und den größten Teil ihres Lebens unterirdisch mit Graben von Gangsystemen verbringen. Diese Voraussetzungen kann man den Tieren in Gefangenschaft kaum bieten. Vier Pfoten rät deswegen von der Anschaffung mongolischer Rennmäuse ab!“ Außerdem sei „das Skelett der Mäuse zart und zerbrechlich, daher sind die Tiere für Kinder ungeeignet.“

Zum Beispiel Fettschwanzrennmäuse

Im Forum rennmaus.de, das 32.580 Mitglieder hat, erfuhr sie: „Keine Rennmaus gleicht charakterlich der anderen“. Was man von den Menschen nicht gerade sagen kann. „Manche Rennmäuse können schnell zahm werden, andere wiederum bleiben eher scheu. Es gibt etwa 100 verschiedene Rennmaus­arten auf der Welt, die hauptsächlich in Afrika und Asien beheimatet sind“ – zum Beispiel Fettschwanzrennmäuse und Kurzschwanzrennmäuse sowie die großen und die kleinen indischen Nacktsohlenrennmäuse.

„Als Heimtier am meisten verbreitet ist jedoch die Mongolische Rennmaus. Ihr lateinischer Name ‚Meriones Unguiculatus‘ wird – fälschlich – gerne als ‚Krieger mit Krallen‘ übersetzt, womit Bezug genommen wird auf zum Teil aggressiv ausgetragene Revierkämpfe, die mitunter tödlich enden.“ Deswegen, aber auch wegen der großen Fruchtbarkeit der Rennmaus-Weibchen (sie bekommen ein bis dreimal im Jahr bis zu zwölf Junge) raten Tierschützer, Männchen zu kastrieren.

Es gibt mehr Rennmausforen für den possierlichen kleinen Nager, als man erwarten würde. Eines hebt hervor, wenn eines der Tiere stirbt (sie werden maximal zwei Jahre alt) und man nur zwei hatte, sollte man ein Tier dazukaufen, denn Rennmäuse lieben und leben gesellig. In der Schweiz ist es sogar gesetzlich verboten, die in Herden oder sozialen Verbänden lebenden kleinen Nager und großen Wiederkäuer einzeln zu halten. Wikipedia weiß jedoch über die Wüstenmäuse zu berichten, „die Rennmausarten in heißen Wüsten sind meist Einzelgänger“. Gilt das auch für überheizte Kinderzimmer?

Mach Tiere glücklich

Der Sohn meiner Freundin baute aus Leim, Pappe und Plastikröhren ein ansprechendes Tunnelsystem für die zwei Rennmäuse im Käfig. Die amerikanische Verhaltensforscherin Temple Grandin hat darüber in ihrem Buch „Making Animals Happy. How to Create the Best Life for Pets and Other Animals“ (2009) nachgedacht.

Zwar ist die autistische „Animal Science“-Professorin eher für Großvieheinheiten zuständig, insofern sie die Situation von Rindern, Schweinen und Mastgeflügel auf Schlachthöfen und Zulieferfarmen, unter anderem für McDonald’s, verbessert, aber sie schreibt auch: Gefangen gehaltene Tiere entwickeln mangels aufregender Umwelt leicht „stereotype Verhaltensweisen“. Man spricht von Hospitalismus, wenn ein Elefant sich zum Beispiel den ganzen Tag „wiegt“, also mit dem Kopf wackelt, oder ein Tiger immer am Gitter entlangwandert.

In Käfigen lebende Rennmäuse haben eine „In-den-Ecken-graben-Stereotypie“, sie verbringen 30 Prozent ihrer „aktiven Zeit“ damit. Zwar meinen viele Forscher, dass sie im biologischen Sinne graben müssen, aber das ist laut Temple Grandin falsch: „In Freiheit graben die Rennmäuse nicht, um bloß zu graben. Sie graben, um Tunnel und Nester zu schaffen. Wenn sie das geschafft haben, hören sie auf zu graben.“ Die Rennmäuse graben also ergebnis­orientiert.

Grab-Stereotypie

Der schwedische Neurobiologe Christoph Wiedenmayer hat das getestet: Er setzte einen Wurf Jungtiere in einen Käfig mit viel trockenem Sand, einen anderen Wurf in einen Käfig, in dem sich bereits fertige Gräben und Gänge befanden. Die Rennmäuse im Sand entwickelten sofort eine „Grab-Stereotypie“, die anderen fingen erst gar nicht an zu graben. Das zeigte: Die Motivation für die „Grab-Stereotypie“ ist die Notwendigkeit, sich in einem sicheren Raum zu verstecken.

Rennmäuse haben in Freiheit viele Feinde, in Laboren und Kinderzimmern nur die Menschen. So oder so: „Die Rennmaus braucht das Gefühl, sich sicher zu fühlen“, nicht weil sie quasi von Natur aus ein „Wühler“ ist. Inzwischen zählen die Biologen sie auch schon nicht mehr zu den „altweltlichen Wühlern“, sondern zu den „Mäuseartigen“. Für Temple Grandin zeigen Rennmäuse in Käfigen ein normales Verhalten in einer un­normalen Umgebung: „Eine Rennmaus, die 30 Prozent ihrer Zeit mit Graben verbringt, ohne in der Lage zu sein, einen Tunnel zu graben, ist in keinen guten Händen.“ In Freiheit wäre eine Rennmaus, die sich keinen Tunnel gräbt, schnell Beute eines Raubtiers.

Die beiden jungen Rennmäuse, die der Sohn meiner Freundin sich gekauft hatte, waren geschlechtlich noch schwer zu bestimmen, deswegen ließ er die Frage „Wer ist was?“ einstweilen auf sich beruhen. Und damit auch die Namensgebung. Dafür baute er ihnen den Käfig immer „artgemäßer“ aus.

Knopfäugige Rennmäuse

Eine Rennmaus ließ sich von ihm bald den Bauch kraulen, wobei sie in eine Art Koma fiel. Er freute sich über so viel Vertrauen, aber im Forum „Meine Rennmauswelt“ las er, dass viele Nagerarten sich quasi tot stellen, wenn sie Angst haben, ähnlich auch beim Streicheln, sodass man nicht wisse, ob dies eine Angstreaktion oder Wohlbehagen sei.

In ihrem Roman „Fürsorge“ (2017) erwähnt Anke Stelling einen Jungen, der ein Terrarium hat, „in dem knopfäugige Rennmäuse rascheln“. Sein Vater fragt ihn oft: „Hast du die Mäuse gefüttert?“ Der Junge sagt jedes Mal „Ja, klar.“ Auch meine Freundin erinnerte ihren Sohn ständig, die Mäuse zu füttern. Als sie es leid war, übernahm sie deren Versorgung. Aber als sie einmal verreisen musste, vergaß sie es, und als sie zurückkam, waren die Mäuse tot.

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