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Die WahrheitWir sind große Wohner

Zu Hause ist es doch am schönsten. Sagen die professionellen und äußerst aktiven Vertreter des allerneuesten Trends: Dweller.

Evelyn Alexander ist begeisterte Dwellerin. Hier winkt sie zum Abschied von ihrem Balkon Foto: Matthias Oesterle / dpa

Die Sommerferien sind angebrochen. Wohin? Wohin?, fragt sich manch einer, der wegen der coronabedingten Maßnahmen seine Reise stornieren musste und nun erschrocken feststellt, dass er doch verreisen darf. Horst Alexander hat da eine Antwort.

Horst Alexander wohnt in der Küche. Vorige Woche wohnte er im Schlafzimmer. „Abwechslung muss sein“, sagt er. „Aber ich wohne nich nur“, berichtigt er uns, als er den Kaffee auf den zerkratzten Küchentisch stellt, „ich mach Urlaub. Zwei Wochen Schlafzimmer, zwei Wochen Küche. Nächste Woche ziehe ich nach Wohnzimmer.“

Der 35-jährige, untersetzte Zerspanungsmechatroniker ist Indoor Traveller. Er urlaubt mit Vorliebe in den eigenen vier Wänden.

„Na ja, Vorliebe würd ich nich sagen … Aber Vorteile hat’s. Erst mal hab ich kein Geld. Zweitens verwohnt man so nur einen Teil seiner Wohnung und schont den Rest. Denn is das natürlich auch ’ne Bewusstseinsmachung. Wenn ich verreise, sehe ich meine Wohnung hinterher ja auch mit andere Augen. Ich mach mir bewusst, wie schön das in den einzelnen Zimmern ist. Wenn man den ganzen Tag in der ganzen Wohnung wohnt, nimmt man vieles als selbstverständlich hin. Die Toilette zum Beispiel.“

Die darf Horst Alexander heute ausnahmsweise nutzen, weil er Gäste hat und weil er in der Küche wohnt – ein ungeschriebenes Gesetz unter Indoor Travellern. Als er im vorigen Jahr erstmals im Schlafzimmer Urlaub machte, brauchte er kreativere Lösungen.

„Ich sag nur Campingtoilette. Und ganz wenig essen.“

Horst Alexander ist aber nicht immer im Urlaub. Im normalen Leben ist der ALG-3-Empfänger ein bekennender Dweller, jemand, der nicht nur einfach viel zu Hause ist, sondern der professionell und aktiv wohnt. In seiner Freizeit ist er Vorsitzender des Vereins „Einfach mal mit dem Arsch zu Hause bleiben e. V.“

„Ja, die Leute sollen halt einfach mal mit dem Arsch zu Hause bleiben, dann is auch nich so viel Verkehr auf die Straßen“, sagt er mit Blick auf die derzeitige Mobilitätsdebatte. Die Straßen sind voll mit SUV und Lkw, auf den Fußwegen stehen E-Bikes, E-Scooter, Fahrräder und Mofas – alles zum Ausleihen. Pkw stellen die Fahrradwege zu. Fahrradfahrer fordern breitere Radwege und eigene Straßen. Verkehrsunfälle häufen sich.

„Wenn die Leute alle so große Wohner wären wie wir, wär das alles gar kein Problem.“

Aber ist das nicht zu kurz gedacht? Sicher lassen sich nicht alle Probleme durch reines zu Hause bleiben lösen.

„Doch, doch, zu Hause bleiben is ’ne Antwort auf alle Fragen“, widerspricht Horsts Frau Evelyn, die derzeit im Schlafzimmer wohnt: „Is total ökologisch. Wir Dweller haben keine Autos, wir gehn nich auf Flugreisen oder fahren mit die Luxusdampfer. Oder Traumschiff. Wobei die Seychellen mal auch nich schlecht wären.“

Zatterday für Zuhausebleim

Der Zu-Hause-Arsch-Verein will sich jetzt auch der Klimaschutzbewegung anschließen, mit Indoordemos, wie Evelyn von dort herüberruft: „Da laufen wir dann den ganzen Tag durch die Wohnung, immer am Sonnabend. Das heißt denn Zatterday für Zuhausebleim.“

Ein gewagter Vorschlag, aber ist er auch umsetzbar? Wir checken, wie praktikabel das alles ist. Und wie es scheint, hat der Verein tatsächlich auf jede Frage eine passende Antwort.

Was machen Berufstätige? „Da gib’s Homeoffice für.“

Was ist mit Einkäufen? „Kann man sich alles liefern lassen.“

Die Kinder müssen in die Schule. „E-Learning. Hat sich doch prima bewährt. Außerdem fehlen ja sowieso überall Lehrer, also wozu sollen die Gören in die Schule?“

Die Kinder müssen an die frische Luft. „Frische Luft? Inne Großstädte? Da muss ick ma kurz auflachen. Ha. Schon vorbei. Nächste Frage …“

Freunde treffen? „Skypen. Zoomen, you name it, I do it.“

Was ist, wenn man zum Arzt muss? „Mein Arzt macht noch Hausbesuche.“

Der Arzt kann also nicht zu Hause bleiben. „Na ja, die erste Diagnose macht er per Skype. Und ein paar Ausnahmen gibt’s ja immer.“

Sport? „Kann ich auch zu Hause aufm Hometrainer oder Stepper oder Klimmzüge machen. Und Sport gucken kann ich im Fernsehen: Fußball, Olympische Spiele – ach nee, die fallen dies Jahr ja aus. Aber vielleicht gibt’s die Wiederholung von 1984.“

Und der große Bereich der Freizeitgestaltung: Konzerte, Theater, Kino, Zoobesuche?„Kann alles gestreamt werden, außerdem gibt’s Katzenvideos, Netflix und so. Es gibt ja keinen Grund rauszugehn. Und bei den teuren Mieten heutzutage, da lohnt sich ja jede Minute, wo man nicht rausgeht.“

Experten geben Evelyn und Horst recht. Laut einer Statistik des Deutschen Instituts für Wohnen wird eine normale Mietwohnung nur zu zwanzig Prozent der Tageszeit als Wohnraum genutzt. In der Zeit, in der die Mieter arbeiten, einkaufen, abends weggehen, verreisen oder schlafen, sind Wohnungen teure Lagerräume für Möbel, Dekokram und abgestandene Luft. Jeder Storage-Space ist weitaus günstiger.

„Außerdem geht’s beim Wohnen ja auch um Konsum. Wenn wir alle nur noch rausgehen und nicht mehr zu Hause bleiben, kaufen wir weniger online – und da hängen ja Arbeitsplätze dran. Die ganze Wirtschaft geht kaputt. Also einfach mit dem Arsch zu Hause bleiben“, raten uns die beiden Glücklichen, als wir gehen. Wie das mit dem gemeinsamen Eheleben in einer solch streng geteilt bewohnten Wohnung ist, wollen wir uns da schon gar nicht mehr ausmalen.

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