Die Wahrheit: Die stille Helmträgerin
Schurken, die die Welt beherrschen wollen – heute: Christine „Leisetreter“ Lambrecht, ihres Zeichens Justitia der Macht.
Wochenlang nahm ein abgeräumter, leerer Stuhl an den Kabinettssitzungen teil. Niemand wollte die verflossene Justizministerin Katarina Barley ersetzen, die sich nach Straßburg abgesetzt hatte und sich im dortigen Europaparlament eine neue Existenz aufbauen wollte. Dann, als allen die Chose fast schon vom Schirm gerutscht war, im Juni 2019, tauchte ein Name aus dem tiefen Dunkel des sozialdemokratischen Tunnels auf: Christine Lambrecht!
Die Öffentlichkeit war bis aufs Hemd erstaunt: Die 1949 in Dessau geborene Autorin und ausgefeilte Kosmetikerin, die in den achtziger Jahren am Leipziger Literaturinstitut Lesen und Schreiben und Dichten gelernt hatte, sollte Justizministerin werden, obwohl sie nie eine Juristische Fakultät von innen gesehen hatte?
Die Ernüchterung folgte auf dem Fuß, die Journalisten befanden sich mit Christine Lambrecht bis zur Hüfte im falschen Fahrwasser. Wen die SPD wirklich aus dem Hut zog, war vielmehr Christine Lambrecht: eine bis zu diesem Punkt nie laut gewordene Politikerin und Juristin von 54 Jahren, die zuletzt ihr Leben als Parlamentarische Staatssekretärin im Finanzministerium unbemerkt abgespult hatte; seit 1998 war sie unauffällig im Bundestag untergebracht worden und hatte sogar viele Jahre unfallfrei als Fraktionsgeschäftsführerin amtiert. Auffällig geworden war sie allenfalls durch einen betonfesten Blick unter der Helmfrisur.
Irrwege einer Frau aus dem Justizmilieu: Im Jahr 1965 in Mannheim geboren, war sie schon 2005, mit gerade einmal 40 Lenzen, unvermittelt in den Ältestenrat des Bundestags geraten; anno 2011, die SPD war aus der Regierung gerutscht und hatte weiter nichts zu tun, wälzte die Fraktion die Zuständigkeit für Sport, Medien und Kultur auf sie ab, weil davon auch niemand sonst ein Krümelchen Ahnung hatte. Im Dezember 2017 schoben ihr die SPD-Abgeordneten deshalb die Hoheit über Finanzen, Haushalt und Euro in die Schuhe, woraufhin sie auch den gut bezifferten Nebenjob im Finanzministerium übernahm.
Blütenrein brennende Leidenschaft
Doch ihre brennende Leidenschaft war immer das Recht. Nach dem Abitur 1984 hatte Christine Lambrecht das Jus in Mannheim und Mainz auswendig gelernt, nach dem Referendariat in Darmstadt mit allen Fibern ihres Wesens zusätzlich die blütenreinen Verwaltungswissenschaften in Speyer eingepaukt, bevor sie 1992 als Dozentin für porentiefes Handels- und Gesellschaftsrecht in Mannheim einen ersten Anker ins Berufsleben warf und 1995 als Rechtsanwältin in Viernheim an Land ging.
Anderen juckt es in jungen Jahren im Mund, sie aber hatte sich mit 18 satten Jahren leise der SPD angeschlossen und spann bald geräuschlos ihren ersten Faden, indem sie zwischen 1985 und 2001 in der Stadtverordnetenversammlung Viernheim ruhte und von 1989 bis 1997 im Kreistag Bergstraße einsaß. Das hängt ihr bis heute an der Nase: Noch im März 2020 musste sie im Bundestag für ein mobil aufgestocktes Internet in Mörlenbach werben, anstelle von Gesprächen am Gartenzaun wie bisher.
Als Justizministerin ist es ihr Hauptanliegen, dass Straftaten künftig verfolgt werden. Recht und Gesetz sollen bald auch im Internet und sogar in der Privatwirtschaft gelten! Ja, selbst in Notzeiten: Als das Coronavirus die Welt überflutete, wirkte sie lautlos an einer Politik mit, die die Grund-, Freiheits- und Spargelrechte in ihrem Wesenskern bewahrte.
Der Staat kommt so seiner angeborenen Fürsorgepflicht nach, die vor niemandem halt macht. Langfristig dreht Lambrecht deshalb am Grundgesetz: „Jeder Erwachsene hat das Recht auf Achtung, Schutz und Förderung seiner Grundrechte einschließlich seines Rechts auf Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit in der sozialen Gemeinschaft“, heißt es in dem fertig geschneiderten Entwurf, der hier nahezu buchstabenfest zitiert sei. „Das Wohl des Erwachsenen ist bei allem staatlichen Handeln angemessen zu berücksichtigen. Jeder Erwachsene hat bei staatlichen Entscheidungen, die seine Rechte unmittelbar betreffen, einen Anspruch auf rechtliches Gehör.“
Weitere Romane sind in Planung. Als Sozialdemokratin weiß Christine Lambrecht, dass zwischen dem Volke und der hohen Justiz ein tiefer Graben klafft. Vorsätzliche Verschleierung einer Blankettfälschung zum Zweck einer Dammgefährdung? Anreizung zur Pfandkehr durch Bannware zur Nachtzeit? Mit solchen Drudeln sind die Gesetzbücher gepflastert und liefern den hilflosen Bürger der Rechtspflege schon zur Tagzeit aus.
Angeknackstes Vertrauen hochpäppeln
Um das auch durch die Coronabeschränkungen angeknackste Vertrauen in den zuckersüßen Staat wieder hochzupäppeln, will Lambrecht deshalb falsche, aber allen geläufige Glaubensvorstellungen in Recht und Gesetz verwandeln. Um ein paar Möglichkeiten bürgernaher Politik abzuhaspeln:
Das bisher inexistente Delikt der Beamtenbeleidigung wird ins Strafgesetzbuch eingepflanzt, dito die Pflicht, einer Vorladung durch die Polizei brav nachzukommen; auch die oft aus dem Stegreif geschossene, bislang leere Drohung „Sonst nehmen wir Sie nackt mit aufs Präsidium“ ist ab sofort nur durch Offenlegung aller Geheimnisse zu parieren.
Versteht sich, dass man anders als bisher seinen gut gepflegten Personalausweis stets dabei haben muss; und weil der Bürger eine Straftat, von der er weiß, nach dem bisher handelsüblichen Strafrecht durchaus nicht anzeigen muss, muss er sie künftig anzeigen. Andernfalls darf er selbst gesiebte Luft zu sich nehmen – und ist in Sicherheit, die sein höchster Traum in der Politik ist!
Wird Christine „La“ Lambrecht so was wahr- und leibhaftig realisieren? Na ja, sie ist in der SPD. Und die können das.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“