Die Wahrheit: Nachbarlärm
Tagebuch einer Quarantänistin: Die Zumutungen nehmen zu. Die Isolation führt zu Doppelkonzerten zwischen Schlagzeug und Gitarre von oben und unten.
D as Virus gebiert Kuriositäten. Einer davon begegnete ich mitten am Tag in einer Nachrichtensendung, in der ein Mann irgendwo in einem deutschen Innenhof Zahlen in ein Megafon schrie und Leute von Balkonen, auf denen stramme Stiefmütterchen blühten, zurückbrüllten. Das Ganze nannte sich „Hof Bingo“, und selbstverständlich war es von den Engländern geklaut. In YouTube-Videos versammeln sich die britischen Erfinder statt in bierschwangeren Pubs auf den Balkonen ihrer trüben Mietskasernen und hoffen auf den Hauptpreis, der deutsche war übrigens eine Klorolle. Was die Engländer gewinnen können – außer einen auf ewig gegen alles immunisierten Boris Johnson –, entzieht sich meiner Kenntnis.
In meiner Straße brüllt zur Zeit niemand, deshalb lerne ich jetzt meine Nachbarn besser kennen. Der nette Herr über mir gehört zur Generation Ü80 und liebt Free Jazz. Im Land der Florian-Silbereisen-Verehrer muss man ja für alles dankbar sein, außerdem kann ich, seit ich die Nächte meiner Jugend in einem Jazzclub vergeudete, mit so was umgehen. Einmal, es ist schon ein paar Jahre her, fiel ich nachmittags beim Bundesliga gucken – das Spiel war öde und ich eingeschlafen – vom Sofa. Mein Nachbar hatte unvermittelt seine Liebe zum Schlagzeug wiederentdeckt und tat sein Möglichstes, seine Enkelin ebenfalls zu entflammen.
Eigentlich bin ich sehr für die Eroberung männlicher Domänen durch weibliche Personen, aber in Anbetracht meiner physischen und psychischen Gesundheit einigten wir uns auf die Verlegung seines Hobbys auf irgendwohin weit weg von meiner Wohnung. Inzwischen ist der nette Herr schwerhörig, ich weiß nicht ob wegen des Schlagzeugs oder des Free Jazz oder einfach so, ich nehme jedenfalls rege an seinem Unterhaltungsprogramm teil, bei schönem Wetter auch gern bei geöffneter Balkontür.
Der Nachbar unter mir hat ebenfalls seine Musikalität entdeckt. Er scheint einen Gitarrenkurs belegt zu haben, vermutlich online, machen ja jetzt alle. Seit fünf Wochen übt er drei Akkorde, die aber ausdauernd. Zwei Stunden am Stück: „Dum di dum-dum, Dum di dum-dum …“
Oh, he’s got the Blues, Baby! So richtig geht es aber erst ab, wenn oben und unten gleichzeitig losgelegt wird. „Dum di dum-dum … Bibapdididubabaayeee … Dum di dum-dum …“ Im Moment suchen ja alle „Wege aus der Krise“, wenn jemand in meinem Haus anfangen möchte, bitte gern, seien Sie mein Gast!
Verglichen mit dem Tort einer meiner Freundinnen ist mein tägliches Konzertritual allerdings nur als zartes Vorspiel zu bezeichnen. Sie lebt in trauter Zwietracht mit dem Nachbarn über ihr, der ab Mitternacht volle Pulle Heavy Metal raushaut, begleitet von seinem durchgedreht kläffenden Hund. Um fünf Uhr morgens sind dann beide müde und gehen schlafen, der Typ und sein Hund, nicht die Freundin. Sie wartet auf das „Hof Bingo“ und ihren Hauptgewinn, ein Paar Lärm reduzierende Kopfhörer.
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