Die Wahrheit: Früher war alles oktobriger
Lebenslänglich Bayer: Sämtliche Großveranstaltungen sind bis auf weiteres abgesagt. Das Gesamtkunstwerk Oktoberfest darf dennoch nicht ausfallen.
E in erster Blick auf das Gesamtkunstwerk aus Flüssigkeit und Schaum. Ein erster Schluck, und ich weiß, dass es ein großer Abend wird. Die ersten Diskussionen darüber, ob es heuer besser schmeckt als im vorigen Jahr. Der zweite Schluck ist ein ganz tiefer und die Mass danach fast schon wieder leer. Es ist an diesem Tag wie früher, wo sowieso alles schön war. „Weißt schon noch, oder?“ Klar, weiß ich noch, wie’s war. Damals war es uns noch nicht so wichtig, ob das Bier geschmeckt hat. Viel musste es halt sein. Und es war viel, meistens jedenfalls.
Wer auf die Idee gekommen ist, sich für den Heimweg mit dem Taxi einen Zettel mit der eigenen Adresse einzustecken, weiß ich nicht mehr. Es war ein guter Einfall, denn es ist durchaus vorgekommen, dass der Zettel weg war, wenn ich am nächsten Tag aufgewacht bin. Klar, war das Bier billiger früher. Aber teuer haben es die Leute damals schon gefunden. Daran hat sich nichts geändert. Und die Livemusik gibt es umsonst dazu. Das Kufsteinlied mag grausam sein; wenn man es sich schöntrinkt, ist es wie eine Sinfonie.
Der Gang zum Klo ist dann die Maßeinheit des Rauschs. Habe ich noch in der Hand, was meine Beine tun? „Heute läuft’s wieder“, sagt einer, der neben mir an der Zinkrinne steht. Tausendmal gehört. Tausendmal gelacht. Wie blöd man sein kann! Und wie schön man das dann finden kann! Die Rose für die Steffi damals. Wie könnte ich das vergessen? Und als Lohn ein Bussl. Mehr nicht. War eh klar. Darauf eine frische Mass!
Mit dem Maier Sepp seinerzeit in der Fischer Vroni. Einen guten Zug hat der gehabt. Am Ende des Abends haben seine Autogramme anders ausgesehen als am Anfang. Wie dann der Schmidt gebrochen hat. „Ich kann das nicht wie ihr“, hat er gesagt. Macht doch nichts. Wir haben ihm noch eine Mass spendiert und ihm seine Adresse auf einen Zettel geschrieben. Wir konnten auch gemein sein, wenn wir lustig waren. Nach allem, was wir wissen, ist er gut zu Hause angekommen damals.
Der blöde Hund vom Nachbartisch, der der Maria fast einen Liter Bier über die Frisur gekippt hat. Wie dann der Riese vom Sicherheitsdienst gekommen ist, der uns rausgeschmissen hat, weil ich dem Kerl ans Schlafittchen wollte! Das erzählt sich heute leichter, als es damals war. Jetzt habe ich das als Geschichte fest im Repertoire. „Die Krüge hoch!“ Es gibt nichts Schöneres im frühen Herbst.
Seit 25 Jahren bin ich weg aus München. Seit 25 Jahren versuche ich, dabei zu sein. Ohne Oktoberfest will ich nicht leben. Ein Jahr ohne Wiesnrausch ist ein verlorenes. Vom Hauptbahnhof in München geht es direkt an den Tisch. Dann tauche ich ein in Bier und Trachtenfasching. Es kann nicht leicht etwas Schöneres geben.
Dass wir immer noch nicht aus dem Gröbsten raus sind, höre ich immer wieder, wenn es um das Virus geht. Am 19. September soll angezapft werden. Eigentlich. Es ist zum Heulen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann