Die Wahrheit: Eine Sekunde
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Diesmal darf sich die geneigte Leserschaft an einem Poem über einen Beinahunfall erfreuen.
Eine Sekunde, in der sich’s entscheidet:
Leb ich weiter oder leb ich nicht?
Ist das meine letzte Stunde,
Oder bleibt es angeknipst, mein Licht?
Eine Sekunde, und nur diese Frage:
Stoppt er oder stoppt er nicht?
Wird er achten meine Vorfahrt,
Oder üb ich besser deren Verzicht?
Eine Sekunde, mal flugs beschließen:
Brems ich oder brems ich nicht?
Kann ich weiterkacheln volle Pulle,
Oder kneif ich besser die Backen dicht?
Eine Sekunde, will endlich Antwort:
Gibt er nun Gummi oder gibt er nicht?
Bleibt es bei der Schrecksekunde,
Oder hab ich den Opel gleich im Gesicht?
Eine Sekunde, dann ist’s entschieden:
Er fährt weiter, sieht mich nicht.
Und ich brüll noch: Stehn bleiben, Arschloch!
Aber Arschloch hört mich nicht.
Eine Sekunde, so schnell verflogen:
Doch ich flieg zig Meter weit.
Während zugleich der Film meines Lebens,
Am innern Auge vorübereilt.
Eine Sekunde, schon tickt die zweite:
Hart ist die Landung auf dem Asphalt.
Und kaum ist auch diese Sekunde verstrichen,
Bin ich in Gänze hingeknallt.
Eine Sekunde, Schrott ist mein Fahrrad:
Mir aber scheint – klopf Holz! – nichts passiert.
Nur Arschloch beklagt blutige Fresse,
Hab ihm nächste Sekunde eine geschmiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt