Die Wahrheit: Hubschrauber über den Schuhen
Wie konnte das nur geschehen? Ohne Fußbekleidung aufwachen? In einer Kunstgalerie? Es ist der Beginn einer fieberhaften Suche…
A us dem Hotel war über Nacht so etwas wie eine ganz elende Kunstgalerie geworden. Es gab nur noch eine einzige Etage, und nach den Fenstern zu urteilen, musste es sich dabei um den Souterrain oder den Keller handeln.
An allen Wänden hingen die schrecklichsten Bilder und Gegenstände. Und als wäre es nicht schon schlimm genug gewesen, dass ich auf einem alten Campingliegestuhl erwacht war, anstatt in dem ein paar Stunden zuvor aufgesuchten Bett, konnte ich obendrein nirgendwo meine Schuhe finden. Ohne meine Schuhe wusste ich nicht, wer und wo ich war. Ich spürte, dass meine Jacke die Antworten auf diese Fragen kannte, aber ohne meine Schuhe verstand ich meine Jacke nicht.
„Nein, ich weiß auch nicht, wo Ihre Schuhe sind“, sagte die Frau im Büro ohne jedes Bedauern. „Sie müssen besser auf Ihre Sachen aufpassen.“ – „Aber es ist doch nicht meine Schuld, wenn sich hier plötzlich alles total verändert!“, rief ich anklagend. Davon wollte die Frau nichts hören. Sie behauptete: „Hier hat sich nichts verändert.“ – „Wenn das so ist“, erwiderte ich, „würde ich jetzt gern frühstücken.“ – „Frühstücken? Was glauben Sie denn, wo Sie sind? Mich würde doch wirklich einmal interessieren, ob wir hier auf einem Schiff sind!“
Von ihr war, wie ich einsah, keine Hilfe zu erwarten. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, lief ich aus dem Büro. Dabei rannte ich beinahe die Schwester des Hubschrauberpiloten über den Haufen. Sie hatte mich gesucht, weil sie mir mitteilen wollte, dass ihr Bruder die Gegend weiträumig zu überfliegen gedachte, um meine Schuhe aus der Luft zu suchen.
„Nacht für Nacht, bis er sie findet“, versicherte sie mir. Sie zeigte mir sogar, wo die Küche war und wie man frühstückte. Voller Dankbarkeit küsste ich ihre Hände. Während ich dann beim Essen und Trinken all die über Nacht eingetretenen Veränderungen und ganz besonders den Verlust meiner Schuhe beklagte, sprach die Tochter des Hubschrauberpiloten von ihren Nöten.
Zögernd gestand sie mir, Gegenstand der furchtbaren Zuneigung eines nichtmenschlichen Wesens zu sein, das zuerst wie ein haarloser, mit einer Art Nachthemd bekleideter Hund oder Storch ausgesehen, später aber das Äußere eines sehr schlichten Mannes angenommen habe. Aus Schwäche habe sie sich dazu hinreißen lassen, viel zu entgegenkommend zu sein, sodass jenes Wesen nun Anspruch darauf erhebe, von ihr geliebt zu werden. Dabei scheine es unberechenbar und zu drastischen Taten in der Lage zu sein.
Weil mir nichts Tröstliches zu dem Thema einfiel, frühstückte ich einstweilen schweigend weiter. Die Schwester des Hubschrauberpiloten schwieg ebenfalls. Schließlich verließ sie mit einem stillen Gruß die Küche.
Seitdem ertönt allnächtlich um vier Uhr eine Sirene, und anschließend ist eine Stunde lang zu hören, wie ein Hubschrauber über der Gegend kreist. Ich habe mit schwarzer Schuhcreme an die Wand geschrieben: „Die Nacht ist schön.“
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