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Die WahrheitGib’s auf, greif zu!

Adrian Schulz
Kolumne
von Adrian Schulz

Ist nicht der gemeine Wochenmarkt der letzte Ort der Ehrlichkeit? Zumindest wenn man Bärlauch kaufen möchte? Nun ja …

E in ganz normaler Tag, drei Unannehmlichkeiten: Alle wollen nicht! Die Antiquare, vier an der Zahl, wollen keine aussortierten Bücher kaufen. Die Postbeamtin, die keine -beamtin, ja nicht mal mehr Post ist, will keinen Karton verkaufen, um mich, ihren taufrischen Mitmenschen auf der anderen Seite des Tresens, einen toten Vogel versenden zu lassen, der unter Artenschutz steht.

„Das Porto würde 7,50 Euro kosten“, sagt sie; dann nichts mehr. „Aber ohne Karton? Reden Sie doch mit mir!“ Keine Antwort. Bis heute suche ich einen genügend großen Karton. Ein Freund hatte kürzlich dasselbe Erlebnis mit Blech – man hielt ihn schlicht für verrückt.

Der Wäschereimann schließlich will das Hemd nicht reinigen, es vielmehr lassen, also das Reinigen. „Nehmen Sie doch Gallseife“, empfiehlt er freundlich. Was ich wohl von der Gallseifenhändlerin zu hören kriegen werde?

Das soll keine Meine-Rechte-als-Kunde-Apologie werden. Allein: Etwas hakt im Getriebe. Nichts mehr kann praktisch bearbeitet werden, was in der geräuschlosen Welt der Algorithmen nicht vorgesehen ist. Das öffnet den Raum für alte, neue, direkte Formen der Belaberung.

Der gemeine Wochenmarkt wird zum Gewissheitszentrum. Die schicken, grünen Formen der Unmittelbarkeit lassen keine Fragen offen – gegessen wird, was in den Wald gekotzt wurde. Zweifel stören. Und woher sie auch nehmen? Es muss doch gut sein, was es da gibt. Und es ist ja auch gut. Das ist ja das Problem. Gesund, knackig, gewaltig, rein, garstig frisch und um die Ecke: Da kann man nichts machen.

„Wie viel Bärlauch nimmt man denn so? Für Bärlauch-Pesto? Für zwei Personen?“ Frage ich also an einem anderen, normalen Tag die Gemüseverkäuferin. Was eigentlich eine Quatschfrage ist, weil, na ja, ein Büschel halt, was denn sonst. Aber auf dem Wochenmarkt kann man so was ja ausnahmsweise mal fragen, denke ich gutgläubig. Auf dem Wochenmarkt sind sie noch ehrlich: ein letzter Hort des authentischen Gesprächs zwischen echten Menschen inmitten von Wurzeln und Kräutern. Die Erde knirscht beim Reden.

„Hmm, also ich würde schon eher zwei empfehlen. Das kann man ja auch prima aufbewahren“, antwortet sie. Und wenn man also unbedingt zwei Büschel zu je drei Euro braucht, mithin ein einziges alleine nicht reicht: Warum soll man das dann aufbewahren müssen? Ein Widerspruch in zwei geraden Sätzen – nicht schlecht. „Okay, nehme ich.“

Da ich noch nie zuvor Bärlauch-Pesto gegessen hatte, wusste ich nicht, dass es schmeckt wie eine Mischung aus Wasabi und Erbsensuppe und den einzigen Zweck hat, die Atemwege zu verengen. Tag für Tag hatte ich seither Gelegenheit, das am eigenen Leibe zu erfahren, und habe mich nicht schlecht geschlagen. Vor drei Wochen gekauft, ist inzwischen fast alles aufgebraucht. Danke, hinterhältige Wochenmarktfrau!

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Adrian Schulz
Freier Autor
Seit 2015 bei der taz, zunächst als Praktikant, dann als freier Autor und Kolumnist (zurzeit: "Ungenießbar"). Nebenbei Masterstudium der Ästhetik in Frankfurt am Main. Schreibt über Alltag, Medien und Wirklichkeit.
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