Die Wahrheit: Verkeimtes Sprechen
Für Sprachhygiene braucht man kein Sagrotan – außer wenn es um „Keimzellen“ geht, die neuerdings vermehrt in der öffentlichen Rede Blüten treiben.
Die „Keimzelle“ ist ein Wort, das nach einer DDR-Bezeichnung für hygienisch bedenkliche Gemeinschaftsbadezimmer klingt, ist aber, so weiß es zumindest ein Online-Lexikon für Schüler, ursprünglich ein Oberbegriff aus der Biologie für Ei- und Samenzellen. Dass das K-Wort auch außerhalb naturwissenschaftlicher Texte zu finden ist, ist nicht neu. Die Keimzelle der Keimzellenmetapher könnte auf den Schweizer Pfarrer Jeremias Gotthelf zurückgehen, der die Ehe Anfang des 19. Jahrhunderts als „Keimzelle der Nation“ sah. Max Horkheimer identifizierte sie 1936 als „Keimzelle des Faschismus“.
Man könnte zumindest hoffen, dass Politiker und professionelle Schreiber die Keimzelle seit Ende der 68er-Zeit nur noch in Handschuhen und mit der Pipette aufnehmen oder dass sie wenigstens in Vergessenheit geraten ist, aber dem ist leider nicht so. Das Keimzellen-Sprachbild hat sich in letzter Zeit in einigen journalistischen Texten eingenistet und ist im politisch konservativen Milieu, das ansonsten bekanntlich eher auf keimfreie Sauberkeit fixiert ist, weit verbreitet. So ist von AKK bis AfD Konsens, dass die Familie, bestehend aus zwei heterosexuellen Eltern und Kindern, die „Keimzelle der Gesellschaft“ ist.Doch es keimt nicht nur daheim: „Das Wirtshaus ist die Keimzelle der Volksmusik“, meint das Oberbayerische Volksblatt. Angesichts dieser Vorstellung setzt doch beim zurechnungsfähigen Kneipengast sofort ein Fluchtreflex ein, damit er nicht mit den Schuhsohlen am siffigen Wirtshausboden festklebt.
Nicht unbedingt appetitlicher ist der „Burger als Keimzelle des Kapitalismus“, den der Deutschlandfunk seinen Hörern auftischt, denen ein in eine Petrischale gepresster verkeimter Burger-Bratling vor dem geistigen Auge erscheint.
Bei der Firma Henkel wiederum diente in den Anfangsjahren „Waschpulver als Keimzelle“, wie der Stern weiß. Hygienespüler gab es damals wohl noch nicht. Apropos Hygiene: Wer keine Lust auf Fußpilz hat, sollte auf einen Aufenthalt im Freibad Harksheide, „Keimzelle des Arriba-Bades“, so das Hamburger Abendblatt, lieber verzichten. Aus gesundheitlichen Gründen sollte auch das Kloster Marienthal als „Keimzelle der heutigen LWL-Klinik“ den Westfälischen Nachrichten zufolge gemieden werden.
Unerwartete Bereiche
Wo es keimt, ist manchmal auch eine Revolution im Gange, wenn auch in eher unerwarteten Bereichen: „Der wiederverwendbare Kaffeebecher ist die Keimzelle der Revolution“, glaubt die Saarbrücker Zeitung, während die Zeit meint: „Härtels Jahrgang gilt als eine Art Keimzelle einer deutschen Fußballrevolution.“
Noch keine Revolution, dafür aber jede Menge linken Krawall hervorgebracht hat die Rote Flora, deretwegen der Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete André Trepoll gleich zwei Biologie-Metaphern aus seinem Laborschränkchen hervorgekramt hat. Die Flora ist laut Trepoll „Biotop und Keimzelle des Linksextremismus der Stadt“, zitiert ihn die Welt. Und nicht nur das. Glaubt man dem bayerischen Innenminister Joachim Herrmann, wurden sämtliche linke Chaoten sogar dort gezeugt, wie er der Süddeutschen Zeitung steckt: „Dass die Rote Flora die Keimzelle für viele linksanarchistische Leute in Hamburg ist, ist unbestreitbar.“
Andere Orte, andere Keime: Sehr wohlwollend bezeichnet die Ostsee-Zeitung das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern als „Keimzelle der Demokratie“. Kassel hingegen, „der deutschen Keimzelle der Fußgängerzone“, wie die Süddeutsche offenlegt, entspringen sämtliche einheimische Shoppingmeilen, was deren Homogenität vielleicht sogar entschuldigen könnte. Und zumindest auf der Ostalb ist „Aalen sozusagen die Keimzelle der Veganbewegung“, glaubt schwaebische.de zu wissen. Bleibt im Sinne der Veganer nur zu hoffen, dass es sich dabei wenigstens um eine pflanzliche Keimzelle handelt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands