Die Wahrheit: Fröhliche Feier für Flora und Fauna
Soeben wurden wieder die Wesen des Jahres gewählt. Immer noch ist die Auszeichnung die wichtigste Preisverleihung im Naturreich.
Jedes Jahr im Januar versammelt sich Flora und Fauna der Bundesrepublik an einem abgelegenen Ort, um ihre ausgezeichnetsten Vertreter als Wesen des Jahres auszuzeichnen. Am Wochenende war es wieder so weit: Alles, was Rangstufe und Gattungsname hatte, war gekommen, der hierzulande wichtigsten Preisverleihung im Naturreich beizuwohnen.
Einzig die Flusslandschaft des Jahres 2018/19, die Lippe, ließ sich äußerst durchsichtig entschuldigen – angeblich sei sie von grundlosen Flügelschlägen aggressiver Gänse stark angeschwollen und voller Flüssigkeit, Bettruhe nun dringend nötig. Gewässerexperten halten die Schwellung der unteren Lippe als Absagebegründung jedoch für vorgeschoben, der dämliche Fluss sei bloß reisefaul und undankbar.
Dass es anders geht, zeigten die urbanen Wälder an Rhein und Ruhr, die als Waldlandschaft des Jahres geehrt wurden und geschlossen angereist waren, Fahrt und Hotel selber zahlten und anderen Gästen kostenlos Schatten spendierten. Ein wichtiges Signal in einem Ökosystem, dessen Klima sich zuletzt merklich verändert hatte.
Die weitverzweigten Debatten unter den hiesigen Blättern haben bei den Tieren Spuren hinterlassen, noch immer stehen Fleischfresser und Pflanzenfresser einander unversöhnlich gegenüber und beharren auf ihrer Lebensform als der einzig wahren. Die Pflanzenfresser fühlen sich von den Karnivoren existenziell bedroht und werfen ihnen Rückständigkeit vor; Fleischfresser sehen sich einer öffentlichen Hetzjagd ausgesetzt. Wegen längst vergangener Wettläufe mit einseitig tödlichem Ausgang würden nun ganze Arten unter Generalverdacht gestellt, instinktgesteuerte Beutegreifer zu sein, was prinzipiell zwar nicht von der Tatze zu weisen, zweifelsohne aber Faschismus im Schafspelz sei, und überhaupt hätten sich Beutetiere früher weniger angestellt, ja Genuss beim Gefressenwerden empfunden.
Gerüchte vom Klatschmohn
Diesen wald- und feldanschaulichen Gräben zum Trotz gelang unter freiem Himmel eine frostige, aber friedliche Gala ohne größere Zerfleischungen. Dafür wurde viel über Anwesende getuschelt: Ist das Geweih künstlich? Hat die Rauchschwalbe den Entzug geschafft? Was läuft da zwischen Eiche und Pflaumenbaum, eine Wühlmaus? Hat der Auerhahn schon wieder seinen Bürzel vergrößern lassen? Was zum Kuckuck brütet der Geier aus und warum zum Geier ist der Kuckuck so ein Aas? Als später publik wurde, sämtliche Gerüchte habe der Klatschmohn gestreut, spendete dieser der Enthüllung den größten Applaus, wenngleich knallrot.
Wie schon in den vergangenen Jahren führten Hase und Igel durch den Abend und überboten sich gegenseitig mit immer schnelleren Überleitungen, wobei die zahlreichen Spitzen des Igels erheiterten und ihn als den gewitzteren Conférencier auswiesen.
Als Erstes wurde dann die sehr gediegene und begehrte Auszeichnung zur „Blume des Jahres“ verliehen, diese Ehre wurde der darob sehr überraschten Besenheide zuteil. Leicht wirr fegte sie auf die Bühne und staubte den Preis ab, kehrte aber rasch wieder um und den Boden um sich herum gleich mit.
Die nächste Trophäe ging an das „Höhlentier des Jahres“, und zwar an die Gemeine Höhlenstelzmücke. Durch eine Ungeschicklichkeit entglitt ihr die kiloschwere Dodoskulptur aus Bronze bei der Übergabe und knallte Laudator Heilbutt auf den flachen Kopf, der jetzt noch etwas platter ist. „Nicht schon wieder!“, blubberte der Heilbutt, dem die Ernennung zum „Fisch des Jahres“ erneut verwehrt blieb. Der Atlantische Lachs hatte sich bei der jüngsten Ausschreibung einfach geschickter präsentiert und dank Seitenkiemen die „Nase“ vorn.
Kontrovers wurde die Entscheidung der Jury aufgenommen, dem Grünen Knollenblätterpilz den Titel „Pilz des Jahres“ zu verleihen, zumal schmackhafte Sorten wie Pfifferlinge und Champignons erneut in die Röhre gucken mussten. Das sei ein Schlag ins Gesicht aller Pilzopfer und belohne Jahrtausende heimtückischen Giftmords, ließen Angehörigenverbände Geschädigter verlautbaren. Der Grüne Knollenblätterpilz will jetzt darüber nachdenken und vielleicht etwas ändern, eventuell sogar seinen Hut nehmen.
Erfreulicher hatte es die Feldlerche, bereits zum zweiten Mal konnte der Piepmatz die Trophäe als „Vogel des Jahres“ erflattern. In ihrer Preisrede stieg die Lerche vor Freude an die Decke, brach sich den Hals und dankte mit letzten Worten der Intensivlandwirtschaft für die ausgezeichnete Bedrohungslage, ohne die all das nicht möglich gewesen wäre. Ihre Artgenossinnen kündigten an, weiterhin gern im Bestand zu schrumpfen, um bald wieder auf dieser Bühne geehrt zu werden.
Sieger der Königsdisziplin
Nachdem auch der Kippenboden als Boden des Jahres prämiert und auf den Sieg erst mal eine Stange Zigaretten geraucht hatte, nachdem Distel, Gurke und Flatter-Ulme ihre Preise als Staude, Gemüse und Baum 2019 verliehen worden war und das Geißeltierchen Magnetospirillum sich bei der Wahl zur „Mikrobe des Jahres“ knapp gegen Rap-Amöbe Kollegah hatte durchsetzen können, nachdem noch viele weitere Wesen mit einem Preis gewürdigt worden waren, all die Spinnen und Lurche und Kobolde und was da noch so kriecht und flucht, konnte nun endlich der Sieger der Königsdisziplin des Naturdaseins, das „Wildtier des Jahres“ 2019, verkündet werden.
Nominiert waren die Smaragdeidechse, das Sommergoldhähnchen, die kleine Hufeisennase, die Äskulapnatter und das Reh. Die eigens aus Galapagos angereiste Laudatorin, Riesenschildkröte Anita, die es immerhin auf stolze 102 Lebensjahre bringt, machte es besonders spannend, als sie sich beim Verkünden des Siegers viel Zeit ließ, zunächst ihr Portemonnaie aus dem Bauchpanzer zog und bei den Glühwürmchen von der Saalbeleuchtung eine Flasche Sprudel mit winzigen Muscheln bezahlen wollte. Erst als Meisen Frau Schildkröte Ort und Zeit ins Ohr zwitscherten, konnte das Spektakel seinen angedachten Lauf nehmen.
Doch sogleich setzte sich die greise Schildkröte gewaltig in die Nesseln („Unkraut des Jahres 2006“), als sie das schließlich prämierte Reh nicht nur als „Frau vom Hirsch“ vorstellte, sondern der stark bejagten Spezies die Ehrung auch noch in der Kategorie „Wild des Jahres“ verleihen wollte. Das preisgekrönte Huftier nahm es jedoch gelassen und freute sich stattdessen, dass auch eine attraktive und erfolgreiche Top-Art wie die der Rehe für ihre starke Performance belohnt wird. Nächstes Jahr soll den Preis nach dem Willen des glücklichen Gewinners dann endlich auch einmal der Mensch bekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja