Die Wahrheit: Die fleißigen Wilmersdorfer Witwen
Im Untergrund der Hauptstadt gibt es seit Jahren minimale Veränderungen. Unauffällig machen sich dort betagte Helferinnen zu schaffen.
B erlin ist in letzter Zeit so hektisch geworden. Da muss man doch was gegen tun! Nehmen wir den U-Bahnhof Bismarckstraße. Er liegt im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf, tief im Westen der Hauptstadt. Hier verkehren zwei Linien. Täglich hetzen tausende Menschen durch die Gänge. Im Jahr 2006 wurde die Station neu gestaltet oder damit angefangen. Ist man selten dort, könnte man meinen, die Bauarbeiten wären längst eingestellt.
Regelmäßigen Besuchern fällt auf, dass alle drei bis vier Tage eine neue Fliese an der Wand klebt. Manchmal sind es sogar zwei. Dies erweckt den Eindruck, als würde eine des Töpferns mächtige Seniorin in Eigeninitiative nach und nach den Wandschmuck formen, im heimischen Herd festigen, des nachts mit dem Einkaufstrolley herbeikarren und ihn mit Hilfe einer nicht minder betagten Nachbarin anbringen.
Die ist ohnehin am Ort, weil sie sich für die Bahnhofsnamensschilder verantwortlich fühlt. Mittlerweile prangen diese immerhin in jeder zweiten dafür vorgesehenen Aussparung. Auch die Anzahl der Fliesen hat zuletzt erheblich zugenommen. Der Berliner und erst recht die Berlinerin wissen nur zu gut, worauf es hierzulande ankommt. Sie fragen schon lange nicht mehr, was die Stadt für sie tun kann. Da passiert sowieso nix, sie tun einfach ungefragt etwas für die Stadt.
Selbstverständlich muss das unauffällig erfolgen. Nicht nur das Baukartell, auch die Stadtvermarkter beäugen jede Reparatur mit großem Misstrauen. Berlin lebt eben davon, dass hier alles rumpelt und pumpelt. Das sorgt für die legendäre schlechte Laune der Einheimischen, die sich möglichst auf die Touristen abfärben soll, damit die ja nicht zu sorgsam mit der vorgefundenen Substanz umgehen. Über Jahrhunderte hinweg war Berlin bekannt dafür, niemals fertig zu werden, und das ist auch gut so! Lasst New York die Stadt sein, die niemals schläft! Berlin hingegen ist ein Ort, an dem es sich kaum lohnt, aufzustehen, weil sowieso nichts so recht funktioniert.
Wer es aber doch mal aus den Federn schafft oder von seniler Bettflucht geplagt wird, will das Unangenehme oft mit dem Nützlichen verbinden. Wer nämlich wirklich in Berlin lebt, hat Interesse daran, dass es trotz allen Gerumpels und Gepumpels weiterläuft wie geschmiert. Wie eben die mutmaßlichen Witwen von der Wilmersdorfer Straße. Ihnen, wie vielen anderen an diese Stadt Gefesselten geht es darum, alles, was sie aus dem Takt bringt, intakt zu setzen, doch stets dafür zu sorgen, dass es höchstens ihresgleichen auffällt. Niemand will Wohnquartiere, die so wirken, als wären Münchner Vorortstraßen irrtümlich nach Berlin versetzt worden.
Deshalb pflegen wir Berliner auch unsere rauen Umgangsformen und scheinen uns selbst dann im Ton zu vergreifen, wenn wir eigentlich gerade Liebeserklärungen auf den Lippen führen. Man muss eben genau hinhören. Und hinschauen. Man erkennt uns an den Ölflecken auf der Jacke und Zementresten im Haar.
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