Die Wahrheit: Spiritueller Zucker
Die Frau ist beseelt – von dem Getränk, das sie in der Fremde zu sich genommen hat. Was aber, wenn sie die ganze Wahrheit über „Chai Latte“ erfährt?
V on einem kurzen Besuch in Köln kam neulich die Frau völlig beschwingt, beinahe beseelt nach Hause, federte mit strahlenden Augen wie verjüngt die Treppe herauf und verkündete, noch im Mantel, dass ihr Erleuchtung zuteilgeworden sei. Ich beglückwünschte die Frau, wie es sich für einen Mann gehört, befürchtete aber insgeheim eine religiöse Sache. Ich mag keine religiösen Sachen.
Die Frau erzählte, dass sie am Hauptbahnhof in Köln zur ambulanten Überbrückung der Wartezeit auf den Zug in der Halle umhergeirrt und endlich ein „Starbucks“ aufgesucht habe. Dort habe sie sich aus purer Ratlosigkeit einen „Chai Latte“ bestellt. Und dieser „Chai Latte“ habe ihr Leben verändert.
Brüsk beiseite wischte sie meinen behutsamen Einwand, dass es sich bei „Starbucks“ nicht eben um eine Kraft des Guten handele und möglicherweise Zucker … – papperlapapp!, das habe sie auch immer gedacht, sei nun aber vom Geschmack des „Chai Latte“ eines Besseren belehrt, bekehrt, in einen glücklicheren Menschen auf einer höheren Stufe des Seins verwandelt worden.
Die Frau ist spirituell ungefähr so bewandert wie ein herkömmlicher Kreuzschlitzschraubenzieher, also lauschte ich fasziniert ihrem Bericht. Wie schon der erste Kontakt der vordersten Geschmacksknospen auf der Zungenspitze ihr einen wohligen Schauer enzyklopädischer Erinnerungen an indischen Tee bereitet hatte, vergleichbar mit dem Proust’schen Spritzgebäck. Wie Schluck für Schluck sukzessive Bouquet und Blume sich entfaltet und einen süßen Sommerregen hätten niedergehen lassen auf die trockenen Wiesen ihrer Seele. Wie dann der Zug gekommen sei, sie sich einen Becher „to go“ besorgt und die ganze Fahrt über daran gewärmt habe.
Nun, verkündete sie, sei es hohe Zeit für eine Exegese. Flugs war der Rechner eingeschaltet und nach „Chai Latte“ gesucht. Erstes Ergebnis: „Verbraucherzentrale warnt vor Chai Latte“.
Nie werde ich vergessen, wie viel Enttäuschung, wie viel Weltuntergang und Abfall vom Glauben in so einen kleinen Laut passt: „Oh“, sagte die Frau mit der Ernüchterung einer Jüngerin, die in ihrem Guru den geldgeilen Lüstling erkennen muss, der er ist. Zucker. Zucker über Zucker. Mehr Zucker, als physikalisch überhaupt in so einen Becher passen kann, das war das ganze Geheimnis, der ganze Betrug. Und sie war ihm auf den Leim gegangen, ausgerechnet sie.
Seitdem fahndet sie fieberhaft nach Rezepten, wie ein „Chai Latte“ zu Hause gewissermaßen nachzubauen wäre. Vielleicht mit Honig. Oder besser Stevia? Im Kern geht es um die Frage, ob sich das Schlechte ohne Preisgabe seiner verführerischen Vorzüge (Zucker!) in etwas Gutes verwandeln lässt. Es geht um das Ei des Kolumbus. Ich helfe ihr dabei. Wenn sie es findet, werden wir vermutlich eine Kette gründen. Oder eine Religion.
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