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Die WahrheitRitueller Grusel, republikweit

Das bundesdeutsche Herbstgutachten 2018 liegt der Wahrheit vor. Enthalten ist viel Poesie, aber auch viel geschmacklos Monströses.

Illustration: Leo Riegel

Wie dem Sommer unweigerlich der Winter folgt und dem Regen unweigerlich ein Lkw, der durch die Pfützen braust, so schließt sich an die Zeit der Schulferien und des allgemeinen Müßiggangs das Herbstgutachten an. Die großen deutschen Wirtschaftsinstitute, die den Sommer über am Mittelmeer waren, um bei einer Pina Colada entspannt den Sozialstaat zu zerlegen, kehren nach und nach ins Bundesgebiet zurück, um zu brüten – genauer gesagt, um ihre Wünsche, aber auch ihre Forderungen an den deutschen Staat öffentlich zu artikulieren.

Die Spielregeln sind dabei immer gleich. Ein Zusammenschluss der großen Wirtschaftsorganisationen – IFO, BDI, BVG, ZVAB und BDSM – schickt zunächst Inspektoren ins Land, die die Indikatoren für den Herbsteintritt abklappern. Überall sieht man dann die Herren mit den braunen Schutzhelmen herumstehen und sich Notizen in ihre herbstförmigen Klemmbretter machen.

Fallen die Blätter? Fallen sie wie von weit? Fallen sie mit verneinender Gebärde? Liegt ein Duft wie von Kastanien in der Luft? Wie steht es um die Melancholie in der Bevölkerung? Wird genügend übers Sterben nachgedacht? Wenn nein, warum nicht? All dies wird minutiös notiert, in Laub-, Säge- und Poetikgutachten überführt, bis schließlich der Chef der Behörde, Christoph Maria Herbst, öffentlich verkünden kann, dass wieder mal ein Herbstgutachten vorliegt.

Das ist weniger sentimental, als es zunächst klingt. 1977 entstand bei den Organisatoren nach Ausbleiben der üblichen Witterungsphänomene eine Panik – eventuell könnten ja die internationalen Zulieferer Bauteile für einen fach- und sachgerechten Herbst nicht rechtzeitig bereitstellen. Vorschnell wurde die Notwendigkeit eines „deutschen Herbstes“ aus regiona­ler Herstellung verkündet – die Bürger sollten Blätter von Hand kolorieren, ihr Hauseichhörnchen frühzeitig bevorraten. In der Konsequenz wurde der Herbst als Bedrohung empfunden, alle drehten durch, Willkürgesetze wurden erlassen und Leute erschossen. Nicht schön!

Der Wahrheit-Redaktion liegt nun das Herbstgutachten 2018 bereits vor. Danach werden noch im Oktober 2018 neben viel weiterem Tod und Vergehen auch sogenannte Landtagswahlen stattfinden, die alles in den Schatten stellen, was wir von Verfall und Vergänglichkeit gewohnt sind – es sind Grusel-Events der Extraklasse!

Kürbiskönig Söder zieht herum

In Bayern ist es Kürbiskönig Söder, der die Zeit der länger werdenden Schatten einläutet. Der Söder, eine Schreckgestalt des amerikanischen Halloween, erscheint angeblich immer, wenn man dreimal „Ausländermaut“ vor einem Spiegel aufsagt. Grotesk kostümiert, über und über mit Kruzifixen behangen, geht der Söder in den kühlen Oktobernächten von Haus zu Haus, um den Menschen ihre Haustiere zu stehlen und heimlich ihre Sozialwohnungen zu verkaufen.

In Hessen ist es die Endzeitgestalt Volker Bouffier, die den Sommer rituell verabschiedet. Beim Bouffier handelt sich um eine Art Menschenfresser, der mit seinem bekannten Sing­spruch „Fee, fi, fo, fum, sind die Grünen wieder dumm“ über Berg und Tal zieht und unvorsichtige Kinder in seinen Sack mit Reformvorhaben packt. Wer ihn abwählt, muss damit rechnen, von Stromkonzernen verklagt zu werden.

Aber auch anderswo wird der Herbst mit unheimlichen Riten begangen. In Sachsen gehen Wesen in schaurigen Kostümen (Schwarz-Rot-Gold) auf die Straße, um in sich in einem närrischen Umzug gegen Fremdsprachen und Zucker im Tee zu empören. Auf dem Höhepunkt des Spektakels kommt Herbstkönig Michael Kretschmer auf einem alten Ziegenbock angeritten und verkündet, dass hier alles seriös ablaufe. Dann rufen alle dreimal fröhlich „Heil Hitler“, und der Herbst ist offiziell eröffnet. Zur Belohnung wird die Person mit dem grässlichsten Kostüm auf Lebenszeit verbeamtet.

Wie das Herbstgutachten darlegt, wird es ähnliche Aufzüge auch bundesweit geben: mit sogenannten „Zombie Marches“, Versammlungen von lebenden Toten. Dieses Jahr werden sie von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine angeführt, die unter dem Hashtag #aufstehen alles zusammenführen, was in der Linkspartei mieft, rasselt, stöhnt und ächzt. Diese Wesen wollen sich als Flashmobs organisieren und da auftauchen, wo man sie am wenigsten vermutet, zum Beispiel bei Versammlungen der AfD.

Meteorologisch erfreut dieser Herbst durch den nahtlosen Übergang zum Sommer: Durch die Dürre ist praktisch alles schon verbrannt, ein aufwendiges Umkolorieren des Grünzeugs entfällt, und schon Mitte August ließ sich in vielen deutschen Städten herrlich trübsinnig durch tote Vegetation schlendern – nur eben in kurzen Hosen und legerer Sommermode.

Und wie wird sich der Herbst 2018 wirtschaftlich darstellen? Die Wirtschaftsforschungsinstitute sind zuversichtlich. Die Gewerkschaft der Großmütter hat erklärt, dass die Quoten für seltsam schmeckende Marmeladen und Eingelegtes auch dieses Jahr wieder erreicht werden können; die Strafzölle aus Amerika, die Donald Trump unlängst auf „filthy German jam“ verhängte, sind dieser konservativen Branche egal. „Das meiste von dem Zeug wird eh nicht verkauft, sondern von den Angehörigen nach unserem Tod weggeworfen“, so eine Sprecherin.

Konjunktur mit kurioser Spitze

Traditionell auf Zuwächse freut sich auch die Industrie für Kassenbandreinigung, die im Herbst stets eine kuriose Konjunkturspitze zu verzeichnen hat. „Im Oktober kaufen viele Leute Federweißer, die eigentlich keine Ahnung davon oder von überhaupt irgendwas haben. Sie legen die ab Werk offene Flasche aufs Kassenband, Federweißer tritt aus und verursacht sofort eine Riesensauerei, die mit großen Mengen Zellstoff notdürftig gelindert, aber nur mit einer professionellen Kassenbandreinigung vollständig bewältigt werden kann“, erklärt der Verband. Auch die Industrie, die Witze über zu früh angeliefertes Weihnachtszubehör herstellt, kann dieses Jahr frohlocken: In den Supermärkten finden sich schon heute Schokofiguren und Dekoelemente für Weihnachten – 2019!

Doch birgt das Herbstgutachten auch eine bedrohliche Botschaft: Der Herbst wird kleiner, schrumpft! Immer heißere Sommer und ständig kältere Winter vermindern das Gespür für den Jahreszeitenübergang. „Es ist wie mit einem Frosch im Kochtopf, der nicht mehr merkt, dass es zwischendrin mal ganz angenehm im Wasser sein kann“, so das Gutachten. Auf lange Sicht könnte das zunächst den Markt für kotfarbene Übergangsjacken und Zwiebelschalenkleidung, dann aber die ganze Modeindustrie destabilisieren. „Wenn die Leute nicht mehr wissen, was sie anziehen sollen, werden sie sich irgendwann überhaupt nicht mehr anziehen“, so das düstere Fazit. „Dann werden Landtagswahlen noch mal ein ganz eigenes Grauen.“

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