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Die WahrheitScooterman hält eine Hand

Kolumne
von Knud Kohr

Wenn die Routinekontrolle im Krankenhaus allzu menschlich wird: Ein aktueller Bericht vom Pflegenotstand.

E igentlich sollte es nur eine Routinekontrolle werden. Eine durchaus sinnvolle Sache, wenn man wie der Scooterman seit mittlerweile sechzehn Jahren an Multipler Sklerose leidet. Also einer unheilbaren Erkrankung des zentralen Nervensystems, die die Weitergabe der Befehle des Gehirns an die Muskeln verlangsamt. Und teilweise ganz unmöglich macht.

„Am Dienstagmorgen werden Sie ins Jüdische Krankenhaus im Wedding gefahren. Und wenn mit den Tests alles glatt läuft, sind Sie am Freitagnachmittag schon wieder zu Hause. Dann haben wir eine Nulllinie gezogen. Und wissen, mit welchem aktuellen Stand Ihrer Krankheit die Behandlung weitergeht.“ So hatte die neue Neurologin dem Scooterman Mut zugesprochen. Und sich massiv getäuscht.

Das Jüdische Krankenhaus im Berliner Norden war voll bis unters Dach. Erst nach einiger Suche ließ sich überhaupt ein freies Bett finden. In einem Dreibettzimmer. Einer der neuen Mitbewohner des Scooterman durchsuchte allerdings derart engagiert die Nachttische der anderen, dass er ziemlich zügig die Klinik verlassen musste. Auch dass der Scooterman sich am Ende eines Bettes festklammerte und sich kurz zu seiner Normalgröße von 190 Zentimetern erhob, mag ein unterstützendes Argument gewesen sein.

Christian oder Christiane

Mitten in der Nacht war die Nachtruhe allerdings beendet. Und zwar deshalb, weil zwei Angestellte ein weiteres Bett hereinschoben, in dem eine junge Frau lag. Oder ein junger Mann? Immer wieder versuchte der neue Patient jedenfalls, aus dem Bett zu springen. Erst als einer der Pfleger dem Wesen eine Tablette gab, und der andere ihre oder seine Hand hielt, bis das Medikament wirkte, kehrte Ruhe ein. Warum es beim Einschlafen ständig „200 – 800 – 276“ murmelte, sollte allerdings erst später erklärlich werden.

Als Scooterman sich am nächsten Morgen entschloss, forsch den neuen Tag anzugehen, stellte er fest, dass der neue Patient vermutlich eine Frau war. Allerdings schien sie den Namen „Christian“ zu tragen. Jedenfalls war das auf dem Namenszettel am Fußende zu lesen. „276 …“ murmelte der neue Mitbewohner des Scooterman vor sich hin, ohne richtig aufzuwachen. Oder die neue Mitbewohnerin?

Jedenfalls schämte sich der Scooterman plötzlich ein wenig. Hatte er wirklich eben über die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen spekuliert, der vermutlich wegen ernsthafter Probleme mitten in der Nacht den Schutz eines Krankenhauses gesucht hatte? Deutlich spürte der Scooterman, wie ihm sein Gesicht knallrot anlief. In welchem Jahrhundert lebte er eigentlich? Plötzlich sah er, woher der Mitbewohner seine Zahlen hatte. Auf dem Nachttisch stand die Inventurnummer, unter der die Verwaltung das Möbel führte. Sie lautete „200 – 800 – 276“.

Scooterman musste lachen. Dann rollte er neben das Bett des Mitpatienten und hielt dessen Hand, bis er wieder im Traumland war. Oder sie? Wer weiß.

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