Die Wahrheit: Psychopathen inklusiv
Dank wohlwollend kreativer Betreuung bekommen auch schwierige Kollegen bei Großunternehmen wie Daimler eine Chance.
Stuttgart, Montagfrüh, 8.30 Uhr: Es ist ruhig auf der elften Etage im gläsernen Headquarter der Daimler AG. Im lichtdurchfluteten Großraumbüro findet das traditionelle Guten-Morgen-Meeting statt. Im Stuhlkreis erzählen alle Mitarbeiter reihum, was sie am Wochenende erlebt haben. Irgendwann ist auch Helge Schuster an der Reihe.
Der Familienvater berichtet von einem Angelausflug, doch plötzlich schwillt seine Stimme laut an, sein linker Mundwinkel gerät ins Zucken. Nach zehn, fünfzehn Sekunden hat er sich wieder im Griff, atmet tief durch, rückt seine Krawatte zurecht, lächelt in die Runde. Dann ist der nächste dran. Was so selbstverständlich aussieht, ist es nicht. Helge Schuster, 47 Jahre alt, Mittleres Management, ist Psychopath. Und dennoch ein liebgewonnener, unverzichtbarer Teil seines Unternehmens.
Inklusion ist ein Menschenrecht, auch in der Arbeitswelt. Wie kein anderes heimisches Großunternehmen zeigt die Daimler AG, wie die Integration auch verhaltensauffälligster Menschen gelingen kann. Für das innovative Konzept hat der Autobauer sogar einige Preise eingeheimst. „Es ist total normal, verschieden zu sein. Das ist das Motto unseres Unternehmens“, erklärt Vorstandsvorsitzender Dieter Zetsche.
Knapp vier Millionen Psychopathen gibt es in Deutschland, doch noch nicht einmal jeder Vierte davon besucht einen Regelarbeitsplatz, wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung ergab, deren Mutterkonzern selbst einen Psychopathenanteil von neun Prozent aufweist. Momentan arbeiten bei Daimler 60.000 Menschen, 7.300 davon haben einen Inklusionsstatus als Psychopath.
Zetsches Psychogramm
Die Bandbreite ist groß: von sporadischen Verbalausfällen über cholerische Anfälle, übersteigertes Selbstwertgefühl, völliges Fehlen von Empathie bis hin zu klinischem Sadismus ist alles dabei. Die sozial unterentwickelten Mitarbeiter dürfen ihren Arbeitsplatz dort wählen, wo sie Lust zu haben. „Und das ist meist auf den oberen Etagen!“, zwinkert Dieter Zetsche und raunt hinterher: „Wollen Sie mal mein Psychogramm sehen? Auch nicht gerade astrein …“
Wer es als Mensch mit antisozialen Verhaltensweisen im Arbeitsleben schaffen will, braucht verständnisvolle Kollegen und Angehörige. So wie Helge Schuster, der seine Kindheit in Cuxhaven an der Nordsee verlebte. Andere Kinder verbrachten ihre Nachmittage buddelnd am Strand, Klein-Helge liebte es, mit der Schippe Quallen zu vierteilen. Manche Klassenkameraden grenzten ihn aus, „nur weil er kein soziales Gewissen hatte und manipulativ war“, sagt seine Mutter. „Dabei konnte er auch durchaus charmant sein!“
Nach dem Abi setzten sich Ursula und Reinhold Schuster dafür ein, dass ihr Bub auf einer Regeluniversität BWL studierte. „Da sind überdurchschnittlich viele Psychos im Studiengang, wir dachten, dass er da nicht auffällt“, erinnert sich der engagierte Vater. Nach dem Studium ging es dann auf Jobsuche: „Warum sollten wir ihn nun plötzlich in der Arbeitswelt von den anderen trennen?
„Verhaltensauffällige Mitarbeiter bringen ganz eigene Ideen, ja ganz neue, kreative Problemlösungen ein, zum Beispiel bei der Freistellung von Mitarbeitern“, argumentiert Dieter Zetsche. „Und ist das Unternehmen richtig durchmischt, profitieren beide Seiten. Die Schwierigen werden mitgezogen und die Normalen nicht gebremst.“ Zugleich lernten die anderen Mitarbeiter, völlig selbstverständlich mit sozial gestörten Menschen umzugehen.
„Erst fand ich sein Verhalten schon verletzend, erst war ich geschockt, wenn er wieder seinen handgenähten Budapester Schuh nach mir warf“, berichtet eine Mitarbeiterin aus Helge Schusters Team, „aber man lernt auch selbst. Man darf sie nicht ausschließen!“
Neben Daimler gibt es weitere Unternehmen, die sich Inklusion erfolgreich aufs Firmenlogo schreiben: Die Deutsche Bank, die Robert Bosch GmbH, die Caritas Deutschland und der NDR, um nur einige zu nennen. Robert Bosch beispielsweise bemüht sich ganz besonders um Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung. „Ist doch super, was bei uns im Haus in Sachen Inklusion alles geschieht. Und das alles, alles dank mir!“, freut sich Bosch-Geschäftsführer Volkmar Denner.
Stuttgart, 9.45 Uhr: Nach dem Meeting im Hause Daimler ist Teamarbeit angesagt. Zunächst läuft alles nach Plan, die Teams brainstormen in Vierergruppen. Doch plötzlich springt Helge Schuster auf, tritt gegen den Tisch, brüllt, dass alle seine Ideen klauten und apostrophiert sein Gegenüber als aidskranken Pimmelkopf. Zwei Kollegen versuchen, Schuster zu beruhigen, nehmen ihn auf den Arm.
„Klar gibt es immer wieder Rückschläge. Sogar wenn alle mitarbeiten. Da geht schon mal was zu Bruch, die neuen Espressotassen oder das Selbstbewusstsein eines Kollegen“, weiß auch Daimler-Boss Zetsche und ergänzt weise: „That’s life!
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