Die Wahrheit: Empör, empör, ist gar nicht schwör
Für alle kränkungsempfänglichen Zeitgenossen gibt es jetzt einen Detektor. Besuch in einem Versuchslabor für Empfindsamkeit.
Bittere Tränen der Empörung fließen ihr die geröteten Wangen hinab. Die junge Frau ist völlig außer sich. Dabei haben wir ihr nur eine einfache Frage gestellt. War diese Frage denn wirklich so unsensibel?
Dr. Britta Guldenmacher ist die Assistentin von Professor Klaus Kretschmer. Sein High-Tech-Labor im schwäbischen Bietigheim-Bissingen hatte einst mit viel Sagrotan-Geld den Bakteriendetektor entwickelt. Seither entdeckt alle Welt überall Bakterien. Die waren zwar immer schon da. Jetzt aber sind sie nachweisbar, also gefährlich.
Wie sie als Frau die Erfindung bewerte, hatten wir Dr. Guldenmacher gefragt. Weil die junge Frau aber in Tränen ausgebrochen ist, antwortet der vollbärtige Professor. Er erklärt uns das neuartige Gerät, das den Grund für unseren Besuch in seinem mehrstöckigen Versuchslabor liefert.
Viele Menschen seien zwar permanent empörungsbereit, so Kretschmer, bekämen aber nicht jede Kränkung mit – etwa, weil sie in einer anderen Straße oder Stadt geschieht. Aber wer vom „Trigger“ – so nennen Psychologen den Auslöser einer unbehaglichen Empfindung – nichts wisse, könne gar nicht traurig oder wütend werden, also seiner gesellschaftlichen Verantwortung nicht nachkommen. Deshalb habe sein Team den neuen Kränkungsdetektor erfunden.
Das hochwertige Gerät verspricht einiges, wie wir dem Werbetext entnehmen dürfen: „Mit der KD 3000 entgeht Ihnen kein ungegenderter Satz, kein zu Schaden gekommenes Tier und kein unkorrekter Essensbestandteil mehr. Hat irgendjemand in Ihrem Viertel ein Stück Fleisch verzehrt? Hegt jemand in Ihrer Firma sexualisierte Gedanken? Steht in einem Buch etwas Anstößiges? Der Kränkungsdetektor versetzt Sie zuverlässig in Sorge. Gegen Aufpreis lieferbar auch mit Empörungsdüse.“
Während Assistentin Guldenmacher weiter schluchzt, erläutert Professor Kretschmer die besondere Wirkungsweise des Detektors: „Er funktioniert wie eine Google-Brille. Wenn ich etwas angucke, das mich kränken könnte, wird es mit einem Warnhinweis markiert. Oder gleich entfernt.“
Problematische Grundstoffe
An den Wänden des Versuchslabors sind Werke der Weltkultur säuberlich aufgereiht – also „problematische Grundstoffe“, wie der Professor meint, der uns jetzt auffordert, das Gerät auf die Nase zu setzen und auszuprobieren. Huiiii! Sofort geht es zu wie bei Harry Potter. Die Bücher fliegen nur so aus dem Regal. Vor uns liegen „Dr. Faustus“ und „Der Untertan“, daneben Manfred Manns Album „Watch“. Wir grübeln, warum genau. Klingt „Faustus“ zu gewalttätig, „Untertan“ zu undemokratisch und „Watch“ zu yoyeuristisch? Kretschmer lächelt: „Viel simpler. Der sexistische Nachname ‚Mann‘!“
An seiner Universität müsse die KD 3000 bereits zwingend getragen werden, berichtet der Professor leicht sächselnd. In diesem Moment krachen zwei Dutzend weitere Bücher aus dem Regal: Stefan Zweig, Philip Roth, Kafka, Freud … alles jüdische Autoren. „Juden raus?“ Soll das etwa politisch korrekt sein? Geduldig erklärt Kretschmer, dass es hier nicht um politische Korrektheit gehe, sondern „ausschließlich um die persönliche Be- und Empfindlichkeit der Nutzer*innnen“. Und Juden würden nun mal an den Holocaust erinnern. „Das traumatisiert! jeden, der nur ein bisschen Empfindsamkeit pflegt.“
Als Nächstes fliegt das Gandhi-Poster von der Wand – weil der Inder zwar gewaltlos agiert , aber nie gegen Atomkraftwerke protestiert habe. Und wegen „Femaling“. Was ist Femaling? „Das ist so ähnlich wie Blackfacing. Er hat … Frauen verhöhnt, indem er … ein Kleid trug“, erläutert Dr. Britta Guldenmacher stockend, die langsam ihre Worte wiederfindet. Man sieht ihr die Anstrengung an, solche Dinge auszusprechen. Und ihr komplettes Desinteresse an indischen Textilien ebenfalls.
Und warum jetzt Karl May? „Redfacing“? Rassismus? Männlicher Autor? Nein – KD 3000 hat Talent zum unfreiwilligen Kalauer. Auf dem Display erscheint: „Sächsismus“. Professor Kretschmer ist ein wenig angefressen ob unseres Kicherns.
Und dann, dann kommt ein altes Telefonbuch geflogen. Warum bloß? Die Volltextsuche zeigt an: Frauke Wunder, Blumenallee 6. „Ach, klar“, Kretschmer fasst sich an den Bart, „das Gomringer-Gedicht!“ Die KD 3000 werte aktuelle Medien aus und tagge ständig neue Begriffe als verletzend. Ach so: Blumen und Alleen und Frauen und der Bewunderer. In sich logisch, die KD 3000.
„Aber müsste sie nicht den Kontext …?“ – „Ja, das planen wir für die 4000er-Version“, unterbricht er uns hastig. Denn plötzlich ist im Versuchskinderzimmer ein Poltern zu hören. Auf dem Fußboden liegt ein Liederbuch. „Hänschen klein ist sexistisch“, sagt die KD 3000. Im Gegensatz zum Jungen Hans können Mädchen nicht einfach drauflos und frohgemut in die weite Welt ziehen. Und den Stock, der ihm gut steht, muss man ja gar nicht mehr erklären.
Wir heben derweil ein kleines Kruzifix auf, das von der Wand gewirbelt wurde. Klar: Es erinnert an kirchlichen Missbrauch. Und die Quälerei des gekreuzigten Heilands ist heutzutage auch niemandem mehr zuzumuten.
Verschiedene Kränkungsstufen
Man könne die Empfindlichkeit der KD 3000 regulieren, beteuert Kretschmer. Stimmt, es gibt hier Stufen der Kränkung. Aber wir sind bereits auf der Stellung „robustes Gemüt“. „Zartes Pflänzchen“ oder gar die maximale Empfindlichkeitsstufe „Weibliche Studierende“ zu testen, wagen wir nicht.
Ob es nicht besser wäre, wenn sich empfindliche Menschen bestimmte Filme, Bilder und Bücher gar nicht erst ansähen, fragen wir. Assistentin Guldenmacher rafft sich mit belegter Stimme zu einer Entgegnung auf: „Das wäre Zensur! Es ist das gute Recht jedes Menschen, sich Dinge anzusehen, die er nicht sehen will! Wenn die ihn dann verletzen, sollen auch andere sie nicht sehen.“ Der Satz „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“ sei verantwortungslos. Man höre ja auch nicht weg, wenn ein Kind in der Nachbarwohnung misshandelt werde. Genauso sei es auch mit verletzenden Büchern, Bildern und Mahlzeiten. Die müsse man eben verbieten oder vernichten.
Zum Abschied schenkt uns Professor Kretschmer eines seiner Geräte: „Sie werden ein ganz neues Leben führen.“ Und tatsächlich zeigt die KD 3000 uns vor der Tür ein Bietigheim-Bissingen, das wir so noch nicht kannten und auch kaum mehr kennenlernen können. Weder nach rechts noch nach links können wir gehen. Rechts kämen wir an einem Haus vorbei, in dem gerade jemand Zwiebeln schneidet, was bedeutet, dass er vielleicht plant, eine Bolognese zu machen. Aus Fleisch! Links schlendern zwei Schwarze vorbei. Wir könnten an Rassismus denken!
Zum Glück hat der Detektor eine Lösung parat: KD 3000 hat für uns einen Hubschrauber geordert. Oder wie das Gerät korrekt meldet: „eine Hubschraubernde“. Uff! Gerettet!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid