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Die WahrheitAn Bord der Kogge

Michael Ringel
Kolumne
von Michael Ringel

Ein Treffen alter Freunde. Zwischen den beiden besteht eine mysteriöse Spannung. Ist der Grund eine Erzählung, die Erinnerungen ans Licht befördert?

D er Romancier Einhellig traf eines Tages einen alten Jugendfreund. Beide stammten aus demselben entlegenen Ort und waren einst gemeinsam in die Metropole gezogen. Kurz nach ihrer Ankunft in der großen Stadt waren sie Zeuge einer kuriosen Begebenheit geworden, an die sich Einhellig kürzlich erinnert hatte. Unverzüglich brachte er die damaligen Ereignisse in eine literarische Form und war nicht wenig stolz auf den Roman, der ihm seiner Meinung nach tadellos gelungen war.

Einhellig war neugierig auf das Urteil des Freundes, der bereits in dem schummrigen Lokal saß und ihn nun lautstark begrüßte: „Marc, setz dich doch!“ Noch immer hatte der Freund die Angewohnheit, sein Gegenüber beharrlich beim Namen zu nennen, als mangele es ihm an stetiger Aufmerksamkeit. Dabei stand sein fröhlich dröhnender Bass in seltsamem Kontrast zu seiner mürrischen Miene. Einhellig bemerkte, dass die Gesichtszüge unter dem mittlerweile ergrauten Haar wie eh und je von einer ängstlichen Anspannung geprägt waren.

„Marc, so lang ist’s her!“ Nachdem die gut gepolsterte Wirtin zwei Halbe gebracht hatte, breitete der Freund sein anekdotisches Wissen aus. Er verkehre schon eine Weile in dieser Kaschemme, über die er einiges erfahren habe. Früher sei ein hochdekorierter Literat regelmäßiger Gast gewesen, auf dem Sims hätte da noch eine Sammlung Krüge gestanden und einmal wollte ihn ein Mann am Nebentisch vom Stuhl weg für sein Unternehmen verpflichten, weil er einer Bekannten ein technisches Gerät fachkundig eingerichtet hatte.

„Marc, die Vanessa! Darauf ein Frisches!“ Er trank sein Glas in einem Zug leer und winkte der Zapfkraft mit zwei Fingern, die ein V bildeten. Einhellig konnte kaum mehr folgen. Es war ihm, als schwanke der Boden.

„Marc, ich werde nie vergessen, wie wir beide hier ankamen“, entsann sich der Freund leutselig, und Einhellig nutzte die Gelegenheit, um auf seine Erzählung anzuspielen. Der Freund setzte sogleich ein graues Arbeitsgesicht auf.

„Marc, dein Roman ist nicht besonders“, stellte er fest und blickte Einhellig zögerlich an, der zu seinem eigenen Erstaunen versicherte, dass er gar kein anderes Urteil erwartet hatte für das zügig hingeworfene Werk. Zufrieden reckte der Freund zwei Finger Richtung Tresen.

Einhellig aber ärgerte sich nicht wenig, dass er prompt zugestimmt hatte. Dabei war er sich doch sicher, dass sein Roman eine stilistische Brillanz besaß, die ihn in neue schöpferische Höhen katapultiert hatte.

Da erkannte der Romancier, wie er sich revanchieren könnte. Er würde den Freund zu einer Figur in einer Seemannsschnurre machen. Als Smutje müsste er in der schmutzigen Kombüse einer altersschwachen Kogge tagein, tagaus Labskaus anrühren für ein fülliges Flintenweib, dem er völlig verfallen war und das von dem heißen Brei derart erregt wurde, dass es den Koch nächtens als Nachtisch verzehrte. Einhellig lächelte, und diesmal hob er die Hand mit dem V.

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Michael Ringel
Wahrheit-Redakteur
Jahrgang 1961, lebt in Berlin-Friedenau und ist seit dem Jahr 2000 Redakteur für die Wahrheit-Seite der taz.
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