Die Wahrheit: Wo die wilden Wähler wohnen
Warum nicht einfach Kinder für ihre Eltern wählen lassen? Dagegen gibt es allerdings einige ebenso einleuchtende wie schlüssige Argumente.
Z u den größten Irrtümern des an Irrtümern reichen Pop gehört der Slogan „Kinder an die Macht!“ Gott in seiner Gnade und Güte möge verhindern, dass das jemals in großem Stil Wirklichkeit werden könnte – die aktuelle Infantokratie in den USA reicht mir einstweilen als Vorgeschmack, thank you.
Kinder haben keine Meinungen, die allzu weit über „Lena ist doof“ oder „Erdnussbutter ist lecker“ hinausgehen. Einerseits. Andererseits sind sie von einer aberwitzigen Impulsivität, die Situationen schneller eskalieren lässt als der Nahostkonflikt, der eskaliert ja nun schon seit bald hundert Jahren gemächlich vor sich hin. Im Kinderzimmer läuft so ein Konflikt wesentlich schneller aus dem Ruder. Wer zwischen zwei kleinen Mädchen zu schlichten verstünde, die sich um irgendwelche Legosteinchen zanken, für den wäre der leidige Tempelbergquatsch ein Kinderspiel.
Nun sind Kinder, gerade weil sie keine Meinung haben, irrsinnig leicht zu politisieren. Nicht nur im fernen und von verschiedenen Göttern verdammten Palästina, wo kleine Jungs so lange mit Spielzeugpistolen auf israelische Soldaten schießen, bis sie ein Messer halten können und von israelischen Soldaten erschossen werden.
Als wir Eltern am deutschen Frühstückstisch mal für zwei Sekunden den gebotenen Respekt vor dem türkischen Präsidenten vermissen ließen, war mittags schon das Plakat fertig, das Erdoğan als stoppelbärtigen und glutäugigen Menschenfresser im Stil von „Wo die wilden Kerle wohnen“ zeigte. Das Bild wanderte natürlich sofort in den Schredder, Interpol kann da neuerdings ganz schön pingelig sein.
Angesichts der allenthalben aufpoppenden Wahlwerbung ist mir nun aufgefallen, dass auch ich selbst keine Meinung mehr habe. Eine Weltanschauung, das schon. Aber keine echte Meinung mehr. Lese ich „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“, dann stimme ich zu. Lese ich „Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit“, pflichte ich bei. „Zukunft wird aus Mut gemacht“? Wird schon stimmen. Und an „Sozial. Gerecht. Frieden. Für alle“ stört mich nur die affige Interpunktion.
Deshalb habe ich meine Stimme meinen Töchtern geschenkt. Ich werde wählen, worauf sie sich einigen können. Ihre Empfehlung ist mir Gebot. Eine kurze Einführung in die politische Landschaft gab ich ihnen mit auf den Weg: „Es gibt die Schwarzen, das ist die Tante mit den Mundwinkeln. Rot, das ist der Onkel mit Vollbart und Brille. Die Gelben, das ist der traurige Mann dort. Die Dunkelroten wollen Frieden. Die Grünen sieht man nicht, die wollen aber Windräder. Dann gibt es noch die Braunen, die sich als Blaue verkleidet haben, die stinken aus dem Mund.“
So, dachte ich mir, nun mögen sich die Sechsjährige und die Neunjährige mal schön streiten, was der Papa wählen soll. Mein tückischer Plan ging nicht auf. Die Kinder hatten sich mit der größten Selbstverständlichkeit bereits auf Angela Merkel geeinigt. „Was?! Aber warum?“ Schulterzucken, dann: „Einfach so, zur Sicherheit!“
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