Die Wahrheit: Verdrehte Schnecken
Biologie und Komik: Teil 32 unserer Serie „Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung“ beschäftigt sich mit diversen Arten von Bauchfüßern.
Die Biologin und Journalistin Elisabeth Tova Bailey hat 2014 ein Buch geschrieben: „Das Geräusch einer Schnecke beim Essen“. Bailey war wegen einer mysteriösen Krankheit lange Zeit gezwungen, im Bett zu liegen. Währenddessen beobachtete sie eine geschenkte Schnecke – neben ihr in einem Terrarium – und korrespondierte mit Schneckenforschern in aller Welt. Die Geschichte endet damit, dass ihre Schnecke Eier legte, aus denen viele kleine Schnecken schlüpften – und dann starb.
Bei den Gehäusen der Schnecken kann man links- und rechtsgedrehte unterscheiden. Der Schneckenspezialist Stephen Jay Gould schrieb 2002 über die „Drehrichtung von Schneckenhäusern“, dass beide Formen „absolut gleichwertig“ seien in ihren Funktionen. Ähnlich wie bei den links- beziehungsweise rechtshändigen Menschen überwiegen auch bei den Schnecken die rechtsgedrehten. Bei den Schollen und Elefanten gibt es nebenbei bemerkt auch gelegentlich linksäugige oder linksrüsselige.
Von der karibischen Landschneckengattung Cerion, die Gould erforschte, „kennt man nur sechs linksgängige Exemplare, obwohl Millionen von ihnen daraufhin überprüft wurden“. Linksgängige Turbinella-Schnecken, auch Hindu-Glocken genannt, wurden in Indien einst mit Gold aufgewogen.
Für die Benamer aus dem Westen war „links“ dagegen etwas derart Falsches, dass sie die „Blitzschnecke“, die „häufigste linksgängige Art“ aus dem Atlantik, „Busycon perversum“ nannten. Gould ist sich mit dem Mittelmeerschneckenforscher D’Arcy Thompson einig: „Warum in der Windungsrichtung der Schneckengehäuse auf der ganzen Welt in Vergangenheit und Gegenwart die eine Form so überwältigend häufiger ist als die andere, weiß niemand.“
Linksgedrehte Verpaarung
Ein britische Forschergruppe hat jetzt über das Internet für eine Gefleckte Weinbergschnecke namens Jem eine zweite zum Verpaaren gesucht. Es muss eine mit linksgedrehtem Haus sein, was äußerst selten ist. Jem hat solch ein linksgedrehtes Schneckenhaus – „mit der Spitze auf der linken statt auf der rechten Körperseite“, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt, und das macht es ihm ganz unmöglich, mit einer rechtsgedrehten „Liebe zu machen,“ wie die New York Times sich ausdrückte, denn der „Lefty“ Jem hat auch seine Sexualorgane auf der linken Seite.
Die Onlinepartnersuche war zunächst erfolgreich. Der Forschergruppe wurden gleich zwei – aus England und Mallorca – zur Verfügung gestellt. Diese verpaarten sich dann jedoch untereinander – und Jem schaute bloß zu. Später spielte er aber laut SZ ganz „liebevoll mit den Schneckenbabys“. Die Nottinghamer Biologen wollen es weiter mit Jem versuchen, er hat noch etwa zehn Lebensjahre vor sich.
Im Gegensatz zu den meisten Meeresschnecken sind neben einigen Wasserschnecken die Landlungenschnecken ausschließlich Hermaphroditen – Zwitter: Ihre Geschlechtsorgane befinden sich in einem gemeinsamen Genitalapparat. Während viele meereslebende Schnecken sich über frei schwimmende Larven entwickeln, wachsen die Landschnecken vollständig innerhalb des Eis heran und schlüpfen als beschalte Jungschnecken. Weiter heißt es auf Wikipedia: Einige festsitzende Arten vermehren sich mithilfe des Wasserstroms. Andere, sich ebenfalls nicht fortbewegende Arten, wie die Pantoffelschnecke, haben ein besonderes Zwittertum entwickelt: Abhängig vom Alter des Tieres reifen die Geschlechtsorgane, so dass sie in jungen Jahren männliche und in älteren weibliche Funktionen erfüllen.
Zärtliches Liebesspiel
Die Klasse 2a der Grundschule Heeßen in Niedersachsen nahm im Sachunterricht das Thema Schnecken durch, konkret: Weinbergschnecken. Dabei interessierte es die Schüler vor allem, wie die Schneckenkinder entstehen. Die Verpaarung der Weinbergschnecke ist dem Anschein nach sehr zärtlich. Sie findet nach einem mehrstündigen Liebesspiel statt, bei dem sich die Schnecken zunächst mit den Fühlern betasten und mit den Fußsohlen aneinander hochkriechen. Im Verlauf des Vorspiels kann es zur Anwendung eines sogenannten Liebespfeils kommen. Aua! Die eigentliche Begattung findet bei Weinbergschnecken gleichzeitig und wechselseitig statt. Ihre Keimdrüse bildet Eizellen und Samenzellen aus. Allerdings geschieht dies zu unterschiedlichen Zeiten, so dass es nicht zur Selbstbefruchtung kommt.
Es gibt andere, auch zwittrige Schneckenarten, bei denen einer der beiden Partner als Männchen und der andere als Weibchen wirkt. Nach der Begattung bleiben die beiden Schnecken verbunden und tauschen ihre Samenpakete.
Der österreichische Standard berichtete: Für ihre Schneckenforschung hat der englische Sender BBC eine 69-jährige Großmutter aus Devon als beste Amateurwissenschaftlerin des Landes ausgezeichnet. Ruth Brooks war anhand von Experimenten in ihrem Garten der Nachweis gelungen, dass die Gefleckte Weinbergschnecke in der Lage ist, sich in ihrer Umgebung zurechtzufinden. Sie stellte unter anderem fest, dass die Schnecken ihrer Nachbarin und ihre eigenen nach einem Tausch zu ihrem angestammten Platz zurückkehrten – allerdings nur, wenn er sich in einem Umkreis von 30 Metern befand. Brooks zeigte sich erstaunt über die geringe Menge an Forschungsarbeiten zum Thema.
Einzigartige Verwandtschaft
An Schneckenforschern ist ansonsten kein Mangel. Über einen schrieb Patricia Highsmith einen Krimi. Die Forscher des Frankfurter Senckenbergmuseums und des Ocean Research Institute der University of Tokyo trafen sich 2015, um ein Kooperationsprojekt zur Erforschung der Verwandtschaftsbeziehungen in der Gruppe Neritopsina voranzutreiben. „Sie sind eine stammesgeschichtlich sehr alte Großgruppe der Schnecken, die fast einzigartig darin sind, dass innerhalb dieser einen Gruppe alle von Schnecken eroberten Lebensräume (Meer, Süßwasser, Land) erschlossen wurden und quasi alle von Schnecken prinzipiell realisierten unterschiedlichen Lebensformen entstanden (von Nacktschnecken über napfförmige Tiere zu klassisch spiralisierten Gehäusen).“
Die meisten Schnecken ernähren sich von Pflanzen, es gibt aber auch einige sogenannte Raubschnecken, die es auf Tiere abgesehen haben, die noch langsamer als sie sind. Bei den Meeresschnecken sind es meist Muscheln, die sie anbohren. Eine Ausnahme bilden einige Kegelschneckenarten, die mit ihren Giftpfeilen Fische fangen können.
Wie wichtig Schnecken für die Ökologie sind, zeigte der Biologe Josef Reichholf am Beispiel der Meeresschnecke Tritonhorn auf: In den sechziger Jahren fing der Dornenkronen-Seestern an, sich im großen australischen Barriereriff auszubreiten. Der Seestern weidet die Steinkorallenbänke ab, sein einziger Feind ist das Tritonhorn, es konnte seine Ausbreitung jedoch nicht verhindern, zumal die Triton-Schnecken von vielen Menschen gesammelt werden – und ihre Häuser bis in die hiesigen Souvenirläden an der Küste gelangen. Kurzum: Diese eine Art (der Dornenkronen-Seestern), das heißt: seine ungebremste Ausbreitung aufgrund der Abwesenheit seines Fressfeindes (das Tritonhorn) reichte aus, „um das fein abgestemmte System von Abhängigkeiten und Symbiosen im Riff durcheinanderzubringen.“
Wenn man sie lässt, besiedeln die Schnecken nahezu jeden Lebensraum. Sie kriechen durch Dschungel und Wüsten, leben unter Alpenschnee und in 10.000 Meter Tiefe im Meer; sie pflanzen sich fort in Fischgedärmen oder lassen sich, als Ameisenpuppen getarnt, in Ameisenhaufen durchfüttern. 70 Prozent der etwa 100.000 Arten leben im Meer, bei einigen nichtzwittrigen sind die Männchen nomadisch und die Weibchen sesshaft.
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