Die Wahrheit: Burkas, Äpfel und Birnen
Verbote von außen führen bei Menschen, die Religion für sich als relevant betrachten, zu einer Binnensolidarisierung.
U m das gleich am Anfang zu klären: Selbstverständlich kann man Birnen und Äpfel miteinander vergleichen. Vergleiche haben nämlich überhaupt erst dann einen Sinn, wenn die Dinge, die man vergleicht, nicht gleich sind. Man schaut hin und her, um festzustellen, worin sie sich voneinander unterscheiden und worin sie sich eventuell doch ähneln.
So, nun zu Burka, Niqab, Kopftuch, Kippa, Kreuzen an der Wand, Vorhäuten, Nonnenschleiern, dem Verbot, Schweine, Rinder oder Blutwurst zu essen oder mit Menschen des gleichen Geschlechts zu pimpern: Religionen haben Vorschriften. Manche dieser Vorschriften stehen in den heiligen Büchern und hatten zu ihrer Entstehungszeit mal einen praktischen Sinn, manche wurden später von übergriffigen alten Männern aus Langeweile und Herrschsucht erfunden. Wie auch immer: Solange man nicht nachweisen kann, dass die Anhänger der jeweiligen Religion mit Gewalt dazu gezwungen werden, diese Gebote einzuhalten, muss man respektieren, dass Menschen sie für sich als relevant betrachten.
Der wichtigste Grund hierfür ist: Verbote von außen führen zu einer Binnensolidarisierung. Ich weiß, wovon ich rede. Ich gehörte als Kind zu den Zeugen Jehovas, wurde also christlich-fundamentalistisch erzogen. Das bedeutete unter anderem, dass ich in den siebziger Jahren – während alle um mich herum eine Kinderversion von Woodstock zelebrierten – ästhetisch und moralisch in der Nachkriegszeit gefangen gehalten wurde. Alle Jungs trugen Haare, wenn schon nicht bis zum Arsch so doch immerhin bis auf den Hemdkragen, ich aber musste mir alle drei Wochen beim Friseur einen Kurzhaarschnitt verpassen lassen.
Jeans waren tabu, stattdessen gab es beige „Stoffhosen“. Mädchen trugen Rock. Knielang. Für die „Versammlung“ wurde ich mit Schlips und Anzug fein gemacht. Als Zehnjähriger. Ich durfte keinen Geburtstag feiern, keine Popmusik hören, nicht in den Sportverein, und für den Fall, das ich einen Unfall hatte, trug ich ein Kärtchen bei mir, auf dem stand, dass ich auch bei Lebensgefahr keine Bluttransfusion bekommen dürfe. Unterschrieben von meiner Mutter.
Klar war: Obwohl ich mich selbst oft unwohl fühlte, glaubte ich, dass es richtig sei, so zu leben. Weil es Gottes Wille war. Und weil die Menschen, die ich liebte, auch so lebten. Hätte irgendwer zu irgendeinem Zeitpunkt beschlossen, man müsse mich zwingen, Jeans zu tragen oder mir die Haare wachsen zu lassen, ich hätte mich gewehrt. Fromme Menschen geben keinem äußeren Druck nach. Zeugen Jehovas haben sich von den Nazis in Konzentrationslagern umbringen lassen, und bis heute gehen sie andernorts in den Knast, um keinen Wehrdienst leisten zu müssen. Das kann man bewundern oder lächerlich finden, ändern kann man es nicht.
Ja sicher, die Äpfel und die Birnen, aber wie heißt es so schön im Einheitsfrontlied: „Es kann die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiter sein.“
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