Die Wahrheit: Verpönt und verwöhnt
Biologie und Komik: Die lustige Tierwelt und ihre ernsthafte Erforschung (10) – heute mit den weltweit so verabscheuten Kakerlaken.
Komisch: Je größer und dreister die Kakerlaken, desto eher nimmt man an, dass sie aus dem Osten stammen, hier nennt man sie polnische Kakerlaken, dort russische. Die gemeine „deutsche Küchenschabe“ heißt auch in Amerika „deutsche Küchenschabe“.
Dort gibt es daneben noch einige andere Kakerlakenarten – unter anderem die Waldschaben. Während die Küchenschaben ähnlich den Mehlwürmern Allesfresser sind, haben die Waldschaben sich auf Zellulose spezialisiert. Ihre Darmflora ist ähnlich zusammengesetzt wie die der Termiten.
Im Gegensatz zu den Mehlkäfern machen die Kakerlaken keine Metamorphose durch: Sie überspringen das Larven- und Puppenstadium quasi und schlüpfen fertig aus dem Ei. Anfangs sind sie noch klein und haben noch keine Flügel, sie müssen sich mehrmals häuten. Aber Kakerlaken ebenso wie Mehlkäfer fliegen sowieso nicht gern.
Schaben werden meist umgebracht
Im Haus werden die Küchenschaben meist totgetreten oder sonstwie umgebracht, wenn man sie erwischt. Wegen der feuchtwarmen Luft halten sie sich auch gern in Bienenstöcken auf. Die amerikanische Imkerin Sue Hubbell schreibt in ihrem Buch „Leben auf dem Land“ (2016), dass sie anfangs die „amerikanischen Schaben“, die sie regelmäßig beim Öffnen ihrer Bienenstöcke fand, mit dem „Stockmeißel“ entzweischnitt. Und jedes Mal rannte das hintere Ende weg, das offensichtlich „auch ohne den Kopf bestens funktionierte“.
Laut einer US-Kakerlakenstudie sollen sie sogar mit abgeschnittenem Kopf noch „lernfähig“ sein. Sue Hubbel überließ dagegen bald ihren Bienen die Aufgabe, die Schaben und deren Eier aus dem Stock zu werfen.
Der Philosoph Martin Heidegger hatte bereits zum Beweis seiner These, dass Tiere „weltarm“ seien, auf ein ähnliches Experiment von Insektenforschern zurückgegriffen: „Es ist beobachtet worden“, führte er in seiner Vorlesung 1929/30 über „Die Grundbegriffe der Metaphysik“ aus, „daß eine Biene, wenn man ihr den Hinterleib während des Saugens vorsichtig wegschneidet, ruhig weitertrinkt, während ihr der Honig hinten wieder herausfließt. Das zeigt schlagend, daß die Biene in keiner Weise das Zuvielvorhandensein von Honig feststellt. Sie stellt weder dieses fest noch auch nur – was noch näher läge – das Fehlen ihres Hinterleibs … Sie ist einfach von dem Futter hingenommen. Diese Hingenommenheit ist nur möglich, wo triebhaftes Hin-Zu vorliegt.“
Das Tier nimmt damit in der Heidegger’schen Entwicklungskonzeption eine mittlere Position ein – zwischen dem „weltbildenden“ Menschen und dem „weltlosen“ Stein. Bei einem anderen Experiment von Insektenforschern schnitt man den Bienen kurzerhand die beiden Fühler ab, um aus dem daraus resultierenden Orientierungsverlust zu schließen, welche Wahrnehmungsaufgaben ihre Fühler haben (eine Menge!).
Zurück zu den Waldschaben: Bei der Imkerin Sue Hubbell gelangen sie mit dem Brennholz ins Haus, aber das ficht sie nicht an: „Ihr Verdauungsapparat und meiner sind so verschieden, dass wir nicht dieselbe ökologische Nische bewohnen. Wir sind keine Konkurrenten, also kann ich Nachsicht mit ihnen üben, d. h. ich muß sie nicht vertreiben, wie die Bienen es tun, oder sie zerquetschen, wie eine Hausfrau es tun würde.“
Stattdessen begriff die Autorin sich als Teil eines neuen, „noch im Versuchsstadium befindlichen Lebensform-Experiments“ der harmlosen Waldschaben in ihrer Hütte, an deren „Körperbau die Evolution seit dem Oberkarbon fast spurlos vorüber gegangen ist. 250 Millionen Jahre sind wirklich eine lange Zeit.“ Mindestens so lange gibt es die Kakerlaken bereits.
Selbst Forscher erschlagen Kakerlaken
Der Anthropologe Hugh Raffles interessiert sich ebenfalls für Kakerlaken. In seiner „Insektopädie“ (2013) legt er jedoch nahe, dass es ihm nicht recht ist, wenn ein solches Tier sich umgekehrt auch für ihn interessiert: Als eine besonders dicke Kakerlake ihm einmal von oben, von der Schiene des Duschvorhangs aus, zusah, wie er sich wusch, war ihm das zu viel – und er erschlug sie.
Anders der in Berlin lebende russische Maler Nikolai Makarov: Er und seine Freunde waren gerade an den dicksten Küchenschaben interessiert, mit denen sie regelmäßig „Kakerlaken-Rennen“ in ihrem „Tarakan-Klub“ veranstalteten („Tarakan“ heißen die Kakerlaken auf Russisch). Die Tiere wurden zwar von Makarov gefangen gehalten – in kleinen Terrarien, dafür wurden sie regelmäßig mit den besten Lebensmitteln gefüttert, was ihnen wahrscheinlich in den letzten 250 Millionen Jahren noch nie passiert war.
Auch nicht, dass man sie mit Namen ansprach. „ ‚Ivan der Schreckliche‘ gegen die ,Ehrgeizige Olga',“ titelte die FAZ, „beim Kakerlaken-Wettrennen avanciert die gemeinhin als abstoßend empfundene Küchenschabe zum umsorgten und bejubelten Wettkämpfer.“
Der Zeitung erzählte der Maler (der nebenbei bemerkt gern die Stille malt): „Die Idee habe ich vom Dichter Michail Bulgakow, in seinem Buch ,Die Flucht‘ beschreibt er, wie sich russische Emigranten im Exil mit Kakerlakenrennen die Zeit vertrieben.“ Die FAZ fügte hinzu: „Inzwischen verweist Makarov auf einen illustren Kakerlaken-Fan-Kreis: Banken, die Berlinale, Modemessen, ein Theaterfestival buchten die schräge Schau. Auch ins Fernsehen zu Stefan Raab hat es Makarov schon mit seinen ,Haustieren' geschafft.“
Es gibt auch noch zwei Kakerlaken-Romane, die es nicht ins Fernsehen geschafft haben: zum einen „Verfressen, sauschnell, unkaputtbar“ von Hans-Hermann Sprado. Er erzählt darin, wie er in einem Hotelzimmer in Kontakt mit einigen großen Küchenschaben kam, die er „selbst mit roher Gewalt nicht außer Gefecht setzen konnte.“ Woraufhin er „immer mehr Respekt für diese Tiere entwickelte“, die ihm schließlich zu „dem Erfolgsmodell der Evolution“ wurden.
Der andere Roman – von Daniel E. Weiss: „La Cucaracha oder die Stunde der Kakerlaken“ handelt von einer hochgebildeten Kolonie „deutscher Schaben“, die in der New Yorker Wohnung eines jüdischen Juristen leben, wo sie sich in seiner Bibliothek eine erstaunliche Bildung angefressen haben. Ihr eher kontemplatives Dasein wird jedoch gestört, als der Jurist von seiner kakerlakenfreundlichen Freundin verlassen wird und eine neue Frau bei ihm einzieht, „die sich als Putzteufel und neurotische Hygienefanatikerin entpuppt“.
Hygiene bewirkt wenig gegen Schaben
Ihre cucharachafeindlichen Aktivitäten nützen jedoch nichts: „Sind Schaben im Haus, vermag Hygiene wenig. Denn die Allergie erregende Substanz, die von den Schaben hinterlassen wird, wenn sie nur über eine Wurst oder einen Teller laufen, verträgt sogar einstündiges Kochen bei 100 Grad,“ wie die US-Allergieforscher Halla Brown und Harry Bernton herausfanden.
Der Schriftsteller Daniel E. Weiss schreibt, dass die Schaben die Bücher als „Larven“ fraßen, sich also auch wie die neue Freundin seines Protagonisten irgendwann „entpuppten“. Das ist wie oben erwähnt falsch, richtig ist jedoch, dass sie „auch Papier, Tinte und Stiefelwichse verzehren,“ wie der Kakerlakenforscher und Nobelpreisträger Karl von Frisch herausfand.
Man kann sie allerdings erziehen: In der Frankfurter Wohnung des Künstlers Johannes Beck und des Trendforschers Matthias Horx gab es einen großen WG-Tisch, in dessen Mitte ein Porotonstein lag. Als ich sie bei einem Frühstück nach dem Grund fragte, erfuhr ich, dass ihre Kakerlaken darin wohnen. Sie kämen jedoch erst nach dem Essen raus, um sich die Reste zu holen, danach würden sie sich diskret wieder in ihren Stein zurückziehen.
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