Die Wahrheit: „Bitte gib mir diesen heißen Rauch!“
Die recht lustige Tierwelt und ihre ernsten Erforscherinnen und Erforscher – heute mal zu Gast bei Primaten (Teil 4).
Wenn Menschenaffen nicht reden können, sie aber viel zu sagen haben, dann kann man ihnen vielleicht beibringen, ihre Finger zu benutzen, ungefähr so wie ein Taubstummer, schlug der amerikanische Tierpsychologe Robert Yerkes 1925 vor. Zu den Ersten, denen man die „American Sign Language“ (ASL) beibrachte, zählte die Schimpansin Lucy, die im Haus des Psychotherapeuten-Ehepaars Temerlin aufwuchs.
Sie hatte einen Sprachlehrer, Roger Fouts, und der hatte eine Assistentin, Sue Savage-Rumbaugh. Kaum hatte Lucy Anfang der 70er Jahre die ersten von schließlich 90 Zeichen gelernt, versuchte sie schon Fouts mithilfe der Gebärdensprache zu belügen: Sie hatte auf den Teppich gekackt und behauptete, nicht sie, sondern Sue wäre es gewesen.
Die NZZberichtete über sie: „Wer zu dieser Zeit das Haus betrat, wurde Zeuge eines ungewöhnlichen Familienlebens. Hatte Lucy Durst, ging sie in die Küche, öffnete den Schrank, nahm einen Teebeutel heraus, kochte Wasser und füllte die Tasse. Dann setzte sie sich aufs Sofa und blätterte in Zeitschriften, am liebsten hatte sie die National Geographic. Bald entdeckte sie auch härteren Stoff wie Bourbon und Gin.“
Wenig später kam eine neue Vorliebe hinzu. „Eines Nachmittags saßen Jane und ich im Wohnzimmer und beobachteten, wie Lucy die Stube verließ“, berichtete Temerlin. „Sie ging in die Küche, öffnete einen Schrank, nahm ein Glas heraus, holte eine Flasche Gin hervor und schenkte sich drei Finger hoch ein. Damit kam sie zurück, setzte sich auf die Couch und nippte. Doch mit einem Mal schien ihr ein Gedanke zu kommen.
Sie erhob sich wieder, ging zum Besenschrank, holte den Staubsauger hervor, steckte ihn in die Steckdose, schaltete ihn ein und begann, sich mit dem Saugrohr zu befriedigen.“ Ihre Betreuer fanden das nicht nur lustig. Lucy war eigentlich gar kein Affe mehr: „Sie war gestrandet, befand sich irgendwo zwischen den Arten.“
Angst vor den Artgenossen
Das zeigte sich, als man versuchte, sie in Gambia in einem „Chimpanzee Rehabilitation Trust Camp“ auszuwildern. Lucy ängstigte sich vor den dort bereits ausgewilderten Schimpansen und das Nahrungsangebot ekelte sie an. Ihre Babysitterin, die angehende Biologin Janis Carter, die sie an die Freiheit gewöhnen sollte und dafür einige Monate veranschlagt hatte, brauchte acht Jahre dafür. Am Ende hatte Lucy sich dort mit der Horde von „Problemaffen“, wie sie selbst einer war, abgefunden.
Sie ging noch einmal zu Carter und umarmte sie, woraufhin diese in Tränen ausbrach. Lucy klopfte ihr sanft auf den Rücken, als wollte sie sagen, jetzt ist alles okay. Die übrigen Affen machten kehrt und verschwanden im Wald. Lucy stand auf und folgte ihnen. Ein Jahr später fand man Lucys Leiche.
Wahrscheinlich wurde sie von Wilderern getötet, denen sie sich arglos genähert hatte. Carter meinte rückblickend: „Das ganze Projekt war eine einzige Katastrophe.“ Schimpansen, die in einer US-Mittelschichtsfamilie aufwuchsen, könnten nicht an die Freiheit gewöhnt werden. Sie empfänden sich als Menschen, könnten vielleicht rechnen, ein bisschen Gebärdensprache und mit Messer und Gabel umgehen, aber einem Leben in der Wildnis – und womöglich noch unter Affen – seien sie nicht gewachsen.
Ähnlich äußerten sich später auch die Schimpansenforscherin Jane Goodall gegenüber Roger Fouts, als der sie fragte, ob er seine nächste Schimpansin, Washoe, der er die Gebärdensprache beigebracht hatte, auswildern solle, weil er keine anständige Unterbringung für sie in den USA fand. Goodall schrieb ihm, sein Vorschlag sei dasselbe, „als würde man ein zehnjähriges amerikanisches Mädchen nackt und hungrig in der Wildnis aussetzen und ihm verkünden, es werde jetzt zu seinen natürlichen Wurzeln zurückkehren“.
132 Zeichen voll drauf
Fouts arbeitete weiter mit Washoe. Mit fünf Jahren „benutzte sie 132 Zeichen verlässlich und war in der Lage, hunderte weitere zu verstehen“, zudem setzte sie ihre Wörter „zu neuen Kombinationen zusammen“. So wollte sie einmal einen Zug aus seiner Zigarette, die er gerade rauchte: „Gib mir Rauch, Rauch Washoe, schnell, gib Rauch“, sagte sie. „Frag höflich“, erwiderte Fouts. „Bitte gib mir diesen heißen Rauch“, antwortete sie. „Es war ein wunderschöner Satz, dennoch schlug ich ihr die Bitte aus“, berichtete er. „Sie war noch zu jung dafür.“ Als sie das Zeichen für „Blume“ gelernt hatte, benutzte sie es auch für Pfeifentabak und andere interessante Gerüche.
Fouts liebte Washoe, er plante ein großes Freigehege für sie und vier weitere Schimpansen, die Washoe inzwischen adoptiert hatte. Ihre internationale Fangemeinschaft „Friends of Washoe“ organisierte eine Spendensammlung. Und auch die Gemeinde Ellensburg bei Seattle, die stolz darauf war, dass in ihrem Ort jetzt „der klügste Affe der Welt“ lebte, zeigte sich recht großzügig.
1993 war es dann so weit: Als Washoe morgens aufwachte, sah sie durch eine Glastür auf eine Graslandschaft mit Klettergerüsten – und mit leuchtenden Augen verlangte sie: „Hinaus, hinaus!“ Ihre Kollegen Moja und Tatu weigerten sich wochenlang, zurück ins Haus zu gehen.
Lange hörte man nichts von Washoe, aber dann meldete der Spiegel 2007, dass die 1965 in Westafrika geborene Washoe „in Ellensburg eines natürlichen Todes“ gestorben sei. Auf der Webseite der „Friends of Washoe“ fand sich der Hinweis, dass sie „nach langer Krankheit starb“ (Zigarettenraucherin?).
In einem Nachruf schreibt das Gehörlosenforum „my-deaf-com“: „Der einzige lebende Affe zurzeit, der noch die Gebärdensprache beherrscht, ist die Gorilladame Koko. Sie lernte an der Stanford University angeblich mit über 1.000 Zeichen der Zeichensprache zu kommunizieren und später annähernd 2.000 englische Wörter zu verstehen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid