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Die WahrheitDer Time-Tunnel von Meuchefitz

Hartmut El Kurdi
Kolumne
von Hartmut El Kurdi

Wer über Pfingsten das erste Mal ins Wendland fährt, kehrt zurück mit verstörenden Erkenntnissen über das Miteinander der Generationen.

O bwohl ich voriges Jahr 50 geworden bin, gibt es viele Dinge, die ich noch nie gemacht habe. Heroin konsumieren zum Beispiel. Das liegt daran, dass man uns als Jugendlichen damals, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger folgende Kausalkette in den Kopf gehämmert hat: Heroin - Bahnhof Zoo - Anal-/Oralverkehr gegen Geld mit schmuddeligen alten Männern. Und das will man ja nicht, egal welche sexuelle Orientierung man hat.

Außerdem habe ich noch nie hinter dem Steuer eines Autos gesessen, bin nie Fallschirm gesprungen, habe noch keinen Menschen getötet, war noch nie im Bordell, auf Rügen oder Usedom und habe noch nie CDU oder FDP gewählt. Alles aus mehr oder weniger guten Gründen.

Etwas anderes habe ich ebenfalls noch nie gemacht. Bis letzten Sonntag war ich noch nie bei der „Kulturellen Landpartie“. Die „Kulturelle Landpartie“ ist eine Art Flächenfestival im Wendland, von Beginn an verbunden mit der Anti-AKW-Bewegung. Von Himmelfahrt bis Pfingsten öffnen Künstler im ganzen Wendland ihre Ateliers, drumherum gibt es ein Kulturprogramm von Musik über Theater bis zu Ökovorträgen. Insgesamt sind über 800 Künstler daran beteiligt, rund 60.000 Besucher finden den Weg ins Wendland.

In diesem Jahr war ich einer davon. Und was soll ich sagen: Selten so etwas Interessantes gesehen, wobei ich damit weniger die Kulturdarbietungen meine - da gab es Gutes und Banales, wie überall.

Richtig interessant aber war es, der andernorts ja nicht mehr wirklich als Block existierenden alternativen Szene in ihrer ganzen Bandbreite beim Pfingstbummel zuzusehen. Oder einfach beim Leben.

Neben vielen langweilig gekleideten Mainstreamökos flanierten dort auch die richtig gut verdienenden 60-jährigen Grünwähler in teuren Wollfilzkleidern. Sie saßen dann aber mitunter beim Kaffee auf einer Bank mit Altersgenossen, die es mit dem Aussteigerleben wohl ernster gemeint hatten und dies auch phänotypisch repräsentierten - mit verfilztem Resthaarkranz, THC-getränkten Monologen auf den Lippen und noch nicht mal im Ansatz ministeriumskompatibel gekleidet.

Besonders auffällig waren die Massen von Junghippies mit Pumphosen, Nasenpiercings und Dreadlocks, manchmal in trauter Eintracht mit ebenso jungen Anarchopunks, die ja historisch gesehen eigentlich ihre natürlichen Feinde sein müssten. Sehr pittoresk auch der Gasthof Meuchefitz, der in seiner Aufmachung und mit den ihn umlagernden jungen Menschen wirkte wie ein nachgebautes autonomes Jugendzentrum aus einem Achtzigerjahre-Themenpark.

So recht weiß man nicht, was man von solchen Time-Tunnel-Erfahrungen halten soll. Einerseits ist es zu begrüßen, dass junge Menschen sich noch etwas anderes vorstellen können als die Lebenssimulation, die man heute allerorten so angeboten bekommt, andererseits verstört es, dass ästhetisch so konsequent auf die Vergangenheit zurückgegriffen wird. Aber solange keiner von denen „Bots“ hört, ist alles gut. Das tut ihr doch nicht, oder?

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Hartmut El Kurdi
Autor, Theater-Dramaturg, Performer und Musiker. Hartmut El Kurdi schreibt Theaterstücke, Hörspiele (DLF / WDR), Prosa und für die TAZ und DIE ZEIT journalistische und satirische Texte. Für die TAZ-Wahrheit kolumniert er seit 2001. Buchveröffentlichungen (Auswahl): "Revolverhelden auf Klassenfahrt", "Der Viktualien-Araber", "Mein Leben als Teilzeit-Flaneur" (Edition Tiamat) / "Angstmän" (Carlsen) / "Als die Kohle noch verzaubert war" (Klartext-Verlag)
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