Die Wahrheit: Unter Bajuwaren
Neues aus Neuseeland: Mein deutscher Herbst ist vorbei. ...
M ein deutscher Herbst ist vorbei. Er dauerte zwei Wochen, begann mit dem weltbesten Fischbrötchen in Eckernförde und endete soeben beim Bockwurstmahl im Bordrestaurant. Ich sitze im Zug kurz vor Basel und winke der Heimat mit einem blauweiß karierten Schnupftuch hinterher: Toll gefeiert, Landsleute! Von Nord bis Süd ein Volk der krachledernen Ausgelassenheit. Wer braucht schon einen Haka? Bald haben wir alle den Schuhplattler drauf.
Manchmal muss man erst 18.000 Kilometer vom anderen Ende der Welt anreisen, um das Offensichtliche zu bemerken, das die Einheimischen in ihrer folkloristischen Umnebelung verdrängen. Es fällt nur auf, wenn man Distanz hat: Deutschland hat sich verändert. Deutschland jodelt und frisst Haxn. Ob in Kiel oder Köln – alle feiern plötzlich Oktoberfest.
Selbst die fröhlichkeitsresistenten Hamburger und Berliner sind der schleichenden Bajuwarisierung anheim gefallen und nehmen die Infiltrierung aus den Voralpen klaglos hin. Kein Widerstand regt sich in all dem Weißbierrausch, niemand hält mit friesischem Fischertanz oder konspirativem Karneval dagegen. Wo ich auch hinschaute in den ersten Tagen, sprang mir Bayrisches entgegen: Dirndl im Angebot bei Aldi, Spanferkelessen in Schleswig-Holstein – jo mei, was ist da passiert in den Jahren, als ich weg war?
Wer glaubt, ich übertreibe, der stelle sich vor: Die ersten Gummibärchen kurz nach meiner Ankunft hatten Biergeschmack. Ein Werbegeschenk. So weit ist es gekommen!
Doch was Kulturschock wirklich ist, habe ich erst in der vergangenen Woche auf dem Frankfurter Messegelände unter gefühlten 23 Millionen Büchern wirklich begriffen: akute Schockstarre durch zu viel Kultur. Da half nur der Blick aufs Wesentliche: Wie lang ist die Schlange vorm Klo? Darf ich mit einem Billigkuli signieren? Und singen da hinten schon wieder Maori?
Vielleicht hat ja jemand seit Wochen auf Medienentzug gelebt oder schert sich weder um Bücher noch andere Länder einen Dreck, daher zum letzten Mal zur Erinnerung: Mein kleines, feines, fernes Neuseeland war in diesem Jahr Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Ein wenig Sternenstaub von all dem Glanz, ein bisschen Flaum aus all dem raschelnden Kiwigefieder rieselte auch auf mich nieder, die Trittbrettfahrerin auf deutscher Seite.
War das eine Sause! Eine Reise! Eine Messe! Und als die beste aller Partys sich letzten Freitag irgendwo am Wasser in den frühen Frankfurter Morgen hineinzog, da wusste ich nicht mehr, ob das jetzt der Main, der Rhein oder alles nur Wein war. Besiegelt wurde in jenen rauschhaften Stunden ein Meilenstein der deutsch-neuseeländischen Beziehungen: „Die Partei“ hat ab sofort eine diplomatische Vertretung in Christchurch. Jawohl: eine antipodische Zelle der Saupreißn. Denn wo, wenn nicht dort im Erdbebengebiet, müssen wieder Mauern errichtet werden! Für den ersten Staatsbesuch der deutschen Delegation werde ich Tracht anlegen. Die hab ich statt Gummibärchen zum Abschied bei Aldi gekauft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis