Die Wahrheit: Wiederkehrende Wellen
Martin Walsers Tagebuch gefunden! Kopenhagen, Aarhus, Köln.
Immer noch sucht Martin Walser nach seinem verlorenen Tagebuch. Der 85-jährige Schriftsteller hatte es während einer Zugfahrt von Innsbruck nach Friedrichshafen auf dem Sitz liegen lassen. Dort wurde es auch gefunden und inzwischen der Wahrheit zugespielt, die nun Auszüge aus dem Alterswerk des vergesslichen Künstlers veröffentlicht.
Juli, Hotel, Kopenhagen
Heute Abend Lesung im Goethe-Institut. Kenne den Leiter noch aus der Zeit meiner Gastprofessur in Leipzig. Beziehungsweise er kennt mich daher. Kann mir kaum vorstellen, dass ich mich seiner erinnern werde, bei all den Gesichtern. Zumal im Leipzig der neunziger Jahre. Diese schlecht genährten Allerlei-Gesichter. Aufbruch im Geiste, aber die DDR im Gemüt. Ich habe damals schon gewusst, dass es noch Jahrzehnte dauern wird, bis dieser Allmachtsstaat aus den Gesichtern verschwunden sein wird. Staatsprägung, Prägestaat; Fratzen-Regime, Regime-Fratzen.
Bin nach meiner Ankunft ein wenig am Hafen entlanggeschlendert. Es bot sich mir ein gar hübsches Szenario aus Koggen und Doggen, Kanälen und dem ein oder anderen großen Pott, den es nach Übersee zieht. Was für eine ergötzliche Sprache aus den Mündern an die Ohren dringt!
Wenn ich die Augen schließe und nur auf die Laute höre, wähne ich mich in einem Zwergenland, so putzig kullern die Ös und snafeln die Konsonanten aneinander. Herrlich! Habe Lakritz für die Kinder gekauft. „Hundepups“ heißen die hier oder „Dünnslöter“, was so viel wie Dünnschiss heißt. Alissa wollte, dass ich ihr eine Poul-Henningsen-Leuchte mitbringe. Aber ich finde, die kann sie sich selbst kaufen. Sie ist ja schließlich schon fünfzig.
So, muss mich jetzt noch ein wenig ausruhen. Der Magen.
Juli, Aarhus
Ich bin nach meinem Aufenthalt in Kopenhagen nun in Aarhus. Werde am Nachmittag Gretchen Dutschke treffen, wir wollen gemeinsam zu Rudis Lieblingsplatz gehen. Ich hoffe, sie erzählt mir von Dutschkes Jahren hier. Denke darüber nach, sie zum Ausgangsmaterial für einen Roman zu machen. Muss der Maßlosigkeit Uwe Timms etwas entgegensetzten, der die Dreistigkeit hatte, aus zwei, drei Randbegegnungen mit Ohnesorg einen Roman zu machen. Immerhin einen schlechten.
Die Figur, ein Karl Eismöwe, wäre die Figur einer gescheiterten Revolution, die nach einem Anschlag in der Fremde nur mühsam seine Fähigkeiten, sein Ich zurückerlangt. Eismöwe versucht, ein Leben zu finden im heute, vor dem Hintergrund, dass ihm sein Gestern nur aus Zeitungen bekannt ist. Ein Mann, dessen Vergangenheit nur in der Erinnerung anderer existent ist.
Die Handlung spielt am Meer. Das Wiederkehren der Wellen, ihr Schlag, ihr Klang, ihr rhythmisches Zurückweichen symbolisieren seine Versuche, sein vergangenes Leben zu greifen. Ein aussichtsloses Unterfangen, an dessen Ende das Unausweichliche steht.
Aarhus, am Morgen
Gretchen hat mir im Gästezimmer das Bett gerichtet, ich werde ein paar Tage bleiben. Das Haus liegt nicht weit vom Meer, ich könnte es rauschen hören, wenn die Ohren denn besser wären. Ein kleiner Zaunkönig hat vorhin vor meinem Fenster Rast gemacht. Ein kleiner, flinker Gesell, der minutenlang in dem Strauch vor meinem Fenster herumgeturnt ist.
Ein süßer Federfratz, dessen laut schnarrendes „Zerr, zerr“ und das eindringliche „Tak, tak“ mich aus meiner Mittagsruhe riss und der so possierlich anzuschauen ist. Nur von seinen Instinkten geleitet hüpft das kleine Kerlchen hier durchs Holz und sucht sich seine Leibspeise.
Juli, Zug, Rückfahrt von Köln
Gestern Lesung in der Buchhandlung D. gehabt. Ausverkauftes Haus. In den erste Reihen wieder mal die Gattinnen-Liga. Das war auch mal anders. Da saßen mal Frauen, die es wissen wollten. Jung. Neugierig. Ungestüm. Nur die Buchhändlerinnen bleiben gleich. Ungeklärt auch, warum sie – wie die Galeristinnen – sich immer wie ein Tannenbaum behängen müssen. Vornehmlich mit Art-Deco-Geschmeide. Große bunte Perlen und Asymmetrie als Ausdruck des Ichs. Dabei sind sie selbst im Art-Deco-Zeitalter angekommen.
Frage mich, ob die nicht mehr ausbilden. Kettengeklimper von den Kettenhündinnen des Literaturbetriebs. Haben ja alle einen Sublimierungsberuf gewählt. Und wenn ich dann feststelle, dass es wieder nur die Art-Deco-Weiber sind, die anschließend mit auf einen Wein kommen, dann frage ich mich, ob sich das eigentlich noch lohnt. Die Lesungen.
Gestern im Speisewagen saß mir eine junge Frau mit Kind gegenüber. Das rollende R verriet sie als osteuropäische Kinderfrau. Liebevoll las sie der Kleinen aus einem Pixi-Buch vor, wobei ihr das stramme R so rund und voll über die Lippen kam, wie sich ihre Brüste unter der Bluse erahnen lassen. Danach malte das Kind in einem Malbuch. Ich hatte schon bemerkt, dass es mich beobachtete, war dennoch nicht vorbereitet, als es mitten im Malen aufblickte, mich ansah und fragte: „Bist du Käptn Iglo?“
Ich habe die Anekdote abends meiner lieben Frau erzählt, die herzlich lachte. Mir aber mir ist nicht zum Lachen. Ich kann das beim besten Willen nicht witzig finden.
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