Die Wahrheit: Ich war Hanni und Nanni
Was wir in unserer Kindheit verpasst haben, müssen wir später nachholen, und dann ist es blöd, teuer und macht keinen Spaß mehr.
W ährend meiner Schulzeit habe ich grundsätzlich nur Quark gelesen, von Mädchen-und-Pferde-Büchern über die Hörzu bis zu Heinrich Böll. Am nachhaltigsten ruinierten meine Psyche allerdings die Internatsgeschichten. Als durchschnittliche Hamburger Grundschülerin in einer gemischten Klasse habe ich mich quasi von Mädcheninternat-Geschichten ernährt, während ich mich in der Schule langweilte.
Damals wurde in Internaten zwar noch nicht gezaubert, sondern bloß gemobbt, obwohl das noch nicht erfunden war. Aber die tollsten Schülerinnen integrierten gleich nach dem Mobbing mit souveränen Tricks die Außenseiterinnen und feierten geheime Mitternachtspartys mit Limonade und Kuchen. Außerdem gewannen sie stets in letzter Sekunde durch einen zauberischen Zufall im Quidditch. Auch wenn es damals noch Handball genannt wurde. Natürlich wollte ich unbedingt ins Internat, das ja wohl eine einzige Mitternachtsparty sein würde im Vergleich zu den Ereignissen in einer gewöhnlichen Hamburger Schule, deren Zahl 0,5 pro Jahr selten überschritt. Erfreulicherweise waren meine Eltern aber noch bei Trost und haben mich nicht hingelassen.
Was wir in unserer Kindheit verpasst haben, müssen wir später nachholen, und dann ist es blöd, teuer und macht keinen Spaß mehr. Das ist eine alte Lehre von Sigmund Freud oder von mir. Trotzdem ist es mir neulich, kaum vierzig Jahre zu spät, gelungen, kostenlos in einem Internat zu übernachten. Weil ich mich schon früher nicht entscheiden konnte, ob ich lieber Hanni oder Nanni sein wollte, verwandelte ich mich jetzt im Speisesaal nicht in eine Schülerin, sondern in eine multiple Persönlichkeit.
Eine Lehrerin sprach mich auf Französisch an, weil sie mich für die Begleitung der Gastschüler aus Frankreich hielt. Während ich noch geschmeichelt lächelte, „olàlà!“ rief und das Missverständnis aufklärte, mutierte ich nacheinander zur neuen Gesangslehrerin und zur ebenfalls noch unbekannten Cellolehrerin. Als die Lehrer schließlich verstanden hatten, dass ich die zur Lesung geladene Autorin war, sagten sie „Aha, die Märchentante!“ und wandten sich Wichtigerem zu.
Den Abend verbrachte ich mit zwei aufsichtführenden Pädagogen und drei Schülern bei der Betrachtung eines allenfalls mittelinteressanten Fußballspiels. Die anderen 100 Schüler hatten derweil wichtige Partys zu feiern, zu denen ich leider nicht eingeladen war. Vermutlich gab es Limonade und geheimen Kuchen. Mein Gästezimmer im Turm war sehr einsam. Es hatte mir nicht einmal jemand die Pyjamahosen zugenäht, was möglicherweise daran lag, das ich gar keine dabei hatte.
Am nächsten Tag wurde ich von wohlmeinenden Lehrern mit sieben Brötchen versorgt, die ich alle aufessen musste. Sie wissen, wie es um die Buchbranche bestellt ist, und außerdem steht Ernährungswissenschaft nicht auf dem Stundenplan. Meine neue Lehre besagt, dass, wer einmal im Internat war, nie wieder Brötchen essen wird. Keine Ahnung, ob das auch schon bei Sigmund Freud steht.
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