Die Wahrheit: Eine irrtümliche Demonstration
Schwabinger Krawall: Über gut bürgerlichen Arbeitskampf und das Menschenrecht auf Fahrradfahren.
E igentlich hat Herr Reithofer seine Sturm-und-Drang-Zeit lange hinter sich, ebenso wie seine Stammtischkollegen, die sich in der Regel gesittet und bürgerlich vormittags versammeln.
Diesmal indes hat sich am Thema des Eisenbahnerstreiks anlässlich der Ausführungen des Herrn Kellermann, eines alten Gewerkschafters mit reicher Arbeitskampferfahrung in, wie er ausführte, „den dunklen Zeiten des reaktionären Adenauerregimes“ eine Diskussion entzündet, bei der man schließlich bei Salafisten und Fußballrandalierern gelandet ist und in deren Verlauf Herr Reithofer den Überblick über die Zechbilanz auf seinem Bierdeckel verloren hat.
Wie er dann in der Abenddämmerung eine Viertelstunde lang zunächst erfolglos versucht hat, sein Fahrrad aufzusperren, ist ihm mehr oder weniger klar geworden, dass er selbiges vernünftigerweise schieben sollte. Grummelnd und noch immer Argumente formulierend ist er die Herzogstraße entlang geschwankt und hat endlich erleichtert die Ampel an der Kreuzung der Belgradstraße erblickt, von der es nur noch wenige Meter nach Hause waren.
Das heißt: gewesen wären, denn nun hat Herr Reithofer beschlossen, diese paar letzten Meter doch lieber zu fahren, weil ihm inzwischen von der frischen Luft schon viel besser war. Fahrrad fahren, hat er beim Losfahren einer nicht anwesenden Zuhörermenge zugerufen, sei ein Menschenrecht, das einem niemand verbieten könne, und während er diesen Gedanken ausformuliert hat, ist er laut deklamierend nordwärts gefahren, nicht ohne sich beiläufig zu wundern, welch rege Bautätigkeit die Stadt München in letzter Zeit offenbar entfaltet hatte.
Dass er in Milbertshofen endgültig falsch abgebogen und dabei auf die Nürnberger Autobahn geraten ist, hat er auch erst bemerkt, nachdem er bereits einige Zeit über das unverschämte Gehupe vorbeirasender Autos geschimpft hatte, bei Garching doch noch abgefahren war, an einem Ortsschild gehalten hat, um sich zu orientieren, und dabei aufgrund eines Schwindelanfalls rücklings in den Schleißheimer Kanal gefallen ist.
Wie er dann triefend, demoralisiert und vorsichtshalber doch wieder schiebend weitergezogen ist und eine Polizeistreife gefragt hat, wo es zur Belgradstraße gehe, und die Polizisten wissen wollten, wieso sein Licht nicht eingeschaltet sei und ob er zufällig einen Demonstrationszug randalierender Radfahrer bemerkt habe, hat er eingeräumt, er bemerke überhaupt nichts mehr, ist umgekippt und unmittelbar eingeschlafen.
Aufgewacht ist er erst am nächsten Morgen; beim Kaffee hat ihn seine Frau gefragt, was es mit dem Aufmarsch in Garching auf sich habe, von dem die fürsorglichen Polizisten gesprochen hätten und in den er offenbar hineingeraten und dabei misshandelt worden sei.
Es werde, hat Herr Reithofer gesagt, sowieso viel zu viel gestritten, demonstriert und unter Einsatz von Hupen und Blendscheinwerfern aufmarschiert in dieser kruden Zeit, und er wolle davon nichts mehr wissen, sondern nur noch seine Ruhe, in Schwabing und am besten daheim.
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