Die Wahrheit: Endlich wird's schön – Harry R.: 70.
Man gratuliert ja nicht vorab, aber im Falle Harry Rowohlts kann der Gratulationsreigen nicht früh genug eröffnet werden...
U m zwölf Uhr mittags wache ich aus dem Koma auf. Am Abend zuvor hatte ich mit Harry Rowohlt in einer Buchhandlung in Arnsberg gelesen. Der Laden war rappelvoll, man hatte einen Nebenraum geöffnet, in den die Lesung per Lautsprecher übertragen wurde. Harry trank wie immer Whiskey, ich blieb zunächst bei Mineralwasser. Nach zweieinhalb Stunden war Pause. Ich beschloss, nach der Pause ebenfalls zum Whiskey zu greifen. Nach vier Stunden sagte Harry zum Publikum: „Ich bewundere euch dafür, dass ihr so lange auf harten Holzstühlen ausharrt und dabei zuschaut, wie sich zwei ältere Herren betrinken.“ Eine Stunde später zogen wir in den irischen Pub gegenüber, der trotz Ruhetag für uns geöffnet hatte. Der Rest des Abends ist mir nur schemenhaft in Erinnerung.
Um fünf nach zwölf klingelt das Telefon in meinem Hotelzimmer. Harry sagt, es sei Zeit zum Aufstehen. Ob wir frühstücken wollen, frage ich ihn. „Ich bin längst wieder in Hamburg und habe schon eine Seite übersetzt“, brummt er. Harry Rowohlt ist nicht nur ein wunderbarer Vorleser, der immer wieder in Erzählungen abschweift, sodass er eine Kurzgeschichte auf zwei Stunden ausdehnen kann; er ist auch Kolumnist, Penner in der Lindenstraße, Autor und vor allem ein genialer Übersetzer. 147 Bücher hat er bisher geschafft. Das erste war „Die grüne Wolke“ von A. S. Neill, dem Erfinder der antiautoritären Erziehung.
Am liebsten hat er Flann O’Brien übersetzt. Das passt, die beiden könnten aufgrund ihres Hangs zu Alkohol und skurrilem Humor Brüder sein. Durch O’Briens Bücher entdeckte Harry Irland. Aber seine Lieblingsstadt ist Hamburg, durch deren sämtliche Kneipen er mich an einem langen Abend stolz geschleppt hat.
Kennengelernt haben wir uns Mitte der neunziger Jahre in Dublin. Es war Liebe auf den ersten Blick. Harry hatte mich überredet, ihn in die „International Bar“ zu begleiten. Dort spielten die „One Eyed Rattlers“, eine von Harrys fünf Lieblingsbands, eine Bluegrass-Country-Rock-undsonst-was-Band, die manchmal auch „Honky Tonk Woman“ spielt. „Wenn Mick Jagger je gesehen hätte, wie hundsgemein er da parodiert wird, hätte er sich längst aus dem Geschäft zurückgezogen“, meinte Harry. Es wurde wieder ein langer Abend.
Mit der Sauferei ist es inzwischen vorbei. Er hat Polyneuropathie mit unklarer Genese. „Das ist ein Euphemismus für Suff“, sagt er. Der Arzt hat ihm den Alkohol verboten, jedenfalls fast: Viermal im Jahr darf er noch zur Flasche greifen. Das nächste Mal wahrscheinlich am kommenden Freitag. An dem Tag wird Harry Rowohlt nämlich siebzig.
Herzlichen Glückwunsch, mein Lieber, obwohl man eigentlich nicht vorher gratuliert. Mach weiter so, du hast es versprochen: „Ich werde wahrscheinlich doch ein bisschen länger mitmachen, obwohl Polyneuropathie in den Extremitäten beginnt und sich langsam zum Zentrum vorarbeitet“, hat er mal gesagt. „Ich werde also im Schnelldurchlauf so dumm, wie die meisten Menschen bereits sind. Und dann wird’s endlich schön.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört