: Die Unterschicht muss es richten
Man unterhält sich prächtig mit der Saison 06/07 beim Theatertreffen in Berlin: mit großen Massakern unter Tulpen, Dienstmädchen als den schärfsten Kritikern der Gewinner der Globalisierung und betörend traurigen Liebesgeschichten. Und leidet nur ein wenig am Phantomschmerz, dass etwas fehlt
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Das ist der Höhepunkt des Gemetzels: Madame Reille (Corinna Kirchhoff) zerfetzt 100 weiße Tulpen, 50 in jeder Vase, die Monsieur Houillé (Tilo Nest) noch am Morgen auf dem Markt besorgt hat. Ihre Bewegungen sind dabei viel zu klein für ihre zittrige Wut, die ihr zuvor schon die Galle in die Speiseröhre trieb; aber schließlich ist sie mit ihrem Gatten gekommen, Kontrolliertheit und Kultiviertheit vorzuführen, und das lässt sie noch im Wutanfall komisch aussehen. Auch die Tulpen waren nichts anderes als ein Hoheitszeichen des friedfertigen westlichen Denkens, mit dem das Ehepaar Houillé sich gewappnet hat für den Besuch. Denn die Söhne der Familien haben sich geprügelt, nun konkurrieren die Eltern um Souveränität im Umgang mit diesem Vorfall.
Wie der Titel „Der Gott des Gemetzels“ von Yasmina Reza schon andeutet, halten die gepflegten Konfliktlösungen nicht lange und die Fetzen fliegen, bald auch zwischen den Ehepartnern und dann zwischen Männern und Frauen.
Man kommt aus dem Lachen nicht mehr heraus in dieser gehobenen Boulevardkomödie, mit der das Schauspielhaus Zürich zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen war. Rezas Witz reibt sich vor allem am schlechten Gewissen eines aufgeklärten Bürgertums, das über der tiefen Sorge über den Konflikt in Darfur – Madame Houillé schreibt ein Buch darüber – nicht vergessen hat, wie man den besten Apfelkuchen backt. Jürgen Gosch, der die Uraufführung in Zürich inszenierte, ließ sie nun in Berlin auf jener Bühne im Deutsche Theater spielen, wo er schon mit „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ das psychologische Kammerspiel als Laufsteg intellektueller Befindlichkeiten wiederentdeckt hat und vor knapp einer Woche sein letzter Shakespeare „Wie es euch gefällt“ Premiere hatte. Kurzum: Man ist hier verwöhnt.
Und schlimmer noch: Man sieht sich zurzeit fast jeden Abend im Theater. Das ebnet die Gipfel der herausragenden Theaterereignisse, die eine Kritikerjury für das Theatertreffen ausgewählt hat, doch etwas ein. Auf, sagen wir mal, das Niveau eines komfortablen Mittelgebirges.
Dort geht es dieses Jahr, mit wenigen Ausnahmen wie der „Orestie“ aus der Hand von Michael Thalheimer, durchweg lustig zu. Der Weltgeist hat Blähungen – größere Probleme, die seine Verfasstheit und Konstituierung überhaupt in Frage stellten, scheint er, glaubt man denn an das Theater als Auftrittsort seiner gelegentlichen Manifestationen, diesmal nicht zu haben. So gehörten denn dem Kalauer und dem Küchenpersonal die größten Auftritte der Saison.
Dorine muss es eben richten. Sie ist im „Tartuffe“, den der Regisseur Dimiter Gotscheff für eine Koproduktion des Thalia Theaters Hamburg mit den Salzburger Festspielen inszeniert hat, nicht nur Dienstmädchen im Hause von Orgon, der von Tartuffe zur Frömmigkeit und Askese angestiftet wird, sondern auch Gotscheffs schärfste Waffe im Kampf um aktuelle Bedeutungsschichten. Sie bringt mit Migrantenperspektive, Globalisierungskritik und proletarischer Wut ein Wissen über all das, was sich seit Molière verändert hat, in das Stück. Ihre Rolle wird zur Hauptrolle: Judith Rosmair, klein, humpelnd, mit bulgarischem Akzent, kitzelt mit ihren ausufernden Schmähtiraden unsere Ohren, kein Wort Boshaftes will man sich entgehen lassen. Sie ist die Einzige, die neben Tartuffe denken kann in dieser Inszenierung: Alle anderen sind bloße Karikaturen verblödeter Kapitalisten. Und obwohl sie die Familie ihrer Ausbeuter (und Arbeitgeber) gegen Tartuffe verteidigt, denkt sie – und der Zuschauer mit ihr –, dass denen ganz recht geschieht, wenn ihnen alles genommen wird.
Tartuffes Predigten der Entsagung wiederum klingen oft konsumkritisch, nach ökologischer Vernunft und esoterischer Selbstreinigung. Er ist ein Betrüger, keine Frage, rhetorisch aber immer obenauf. Am Ende bleibt er, auch dies durchaus realistisch und anders als bei Molière, Sieger. Durch dieses Weiterlesen der Figuren entzieht sich das Stück jeder Empathie und Identifikation. Man lacht viel, aber mit kaltem Herzen.
Sehr viel wärmer waren dagegen die Gefühle in der großen Küche, in die Sebastian Nübling „Dido & Aeneas“ am Theater Basel versetzt hatte. In Berlin spielten sie in der Schaubühne, wo Nübling inzwischen auch inszeniert. Die Götter, die für die Plötzlichkeit der Liebe zwischen Dido, der Königin von Karthago, und Aeneas, einem der wenigen Überlebenden aus dem besiegten Troja, ebenso verantwortlich sind wie für die Nichtlebbarkeit dieser Liebe, bilden hier zugleich das Küchenpersonal, das Didos Festmahl kocht. Schon vor Beginn des Musiktheaterstücks walzen sie, unter Mithilfe des Chors, den Nudelteig, man riecht das gebratene Geflügel im Ofen. Sie, der professionelle Chor und die Schauspieler als Laien, singen Teile der Oper von Henrik Purcell und erreichen auch dadurch ein Gefühl von Annäherung und Nachvollzug: Der Opernstoff wird so unvermutet zu einer Hülle, in die jede und jeder hineinschlüpfen kann, um Emotionen von nie gekanntem Ausmaß auszuprobieren.
Die Barockmusik wird von einem kleinen Orchester live gespielt und mit elektronischer Verstärkung und Verfremdung manchmal für alle tanzbar zubereitet. Diese Inszenierung war nicht nur erfinderisch in ihren Verkuppelungen von Low- and High-Culture, sondern auch in intelligenten Blicken auf historische Konzepte der Liebe. Crossculture, die so leicht etwas Streberhaftes in ihrem Anliegen bekommt, verschiedene kulturelle Milieus zu integrieren, wirkte so angenehm unangestrengt.
Doch trotz dieser Zufriedenheit mit vielem hinterlässt das Theatertreffen auch ein Gefühl von Unterforderung. Alles wird so souverän beherrscht. Man hätte sich mehr vom Format der Theaterungeheuer gewünscht, wie sie die Textmaschine Elfriede Jelinek fabriziert. Neben Resas „Gott des Gemetzels“ war Jelineks „Ulrike Maria Stuart“ der zweite zeitgenössische Dramentext, aber von ungleich größerer Herausforderung. Wo der Witz von Resa Saltos schlägt, baut Jelinek ganze Zirkuszelte auf, denen sie dann mitten im Betrieb den Mast entzieht.
Ihre Texte treiben eine ständige Selbstdemontage der Sprache, in den Worten verrät sich das Denken, dennoch bleiben sie auch die notwendigen Krücken für jeden Schritt der Gegenwehr. Doch nicht nur deshalb ist der Regisseur Nicolas Stemann mit der Wahl dieses Textes das größte Risiko eingegangen, sondern auch, weil er dabei auf Linearität der Erzählbarkeit von Geschichte und eindeutige Perspektive verzichten musste. Jeder Standpunkt, jede Figur, jedes Statement wird in seiner Inszenierung von mindestens zwei Seiten, aus zwei Zeiten, mit einem Wissen davor und danach, mit einer Meinung der Männer und einer der Frauen betrachtet. Den Mut, das zu versuchen, und die Fähigkeit, das leichthändig hinzukriegen, lernte man im Verlauf dieses Theatertreffens, das am Sonntag zu Ende geht, mehr und mehr schätzen.
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