■ Die Unions-Kampagne gegen die rot-grüne Rentenpolitik: Ein Argument für eine große Koalition
Rot-Grün wird, weil gespart werden muß, für zwei Jahre die Renten real nicht erhöhen. Eigentlich keine dramatische Angelegenheit, könnte man meinen, denn erstens steht ja keine Kürzung ins Haus, und zudem ist die Sache zeitlich begrenzt.
Doch die Rentenfrage rückt zusehends ins politische Zentrum. Diese Frage ist so heikel, weil sie gleich mehrere neuralgische Punkte berührt. Zum einen sind alte Leute auf Sicherheit bedacht; alt zu sein bringt es oft mit sich, Änderungen zu mißtrauen. Wichtiger als dieser „biologische“ Aspekt ist, daß sich in der Rentenfrage gesellschaftliche Umbrüche fokussieren. In unserer mobilen, schnellen, jugendversessenen Gesellschaft ist für Alte kaum Platz und schon gar keine Rolle mehr vorgesehen. Deswegen geht es beim Zwist um die Rente um mehr als nur Geld: Es ist ein Kampf um Anerkennung. Die Rente ist eine Art Kompensation, die die juvenile Gesellschaft für die Alten zahlt; ein Ablaßhandel, der uns ein ruhiges Gewissen verspricht und den Alten symbolisiert, daß die Gesellschaft sie nicht vergißt.
Gleichzeitig ist die Rentenfrage auch ein Projektionsfeld für kollektive Ungewißheiten. Denn auch wenn Riesters Plan nur für zwei Jahre gilt, wissen im Grunde alle, daß die Zukunft der nettolohnbezogenen Rente ungewiß ist. So hegen viele (zu Recht) den Verdacht, daß dieses Einfrieren der Rente bloß der Vorschein des Kommenden sein wird: von Kürzungen und Debatten um einen Systemwechsel. Denn wenn das Rentenniveau bleibt, wie es ist, wird es schon bald von den Jungen kaum mehr bezahlbar sein. Anders gesagt: Der Kompromiß zwischen Alten und Jungen muß neu ausgehandelt werden – zuungunsten der Alten.
Die SPD wird derzeit von ihren Versprechungen von gestern eingeholt. Denn die Union nutzt die Gelegenheit, aus der Fallhöhe zwischen Schröders „Wir schützen die kleinen Leute“-Wahlkampfrhetorik und dem rot-grünen Sparkurs Kapital zu schlagen. Mag sein, daß dies die Regeln des politischen Alltagsgeschäfts sind – trotzdem ist diese Kampagne übler Populismus, zumal auch die Union es besser weiß.
Die Renovierung des Rentensystems wird wahrscheinlich die wesentlichste Aufgabe des kommenden Jahrzehnts sein. Wenn man sich die Angstkampagne der Union anschaut, die noch schriller klingt als die SPD-Rhetorik gegen Blüms „demographischen Faktor“, fragt man sich: Kann eine Rentenreform eigentlich anders als in einer großen Koalition gelingen? Stefan Reinecke
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